Nur wenn du mich hältst (German Edition)
Diabetiker kümmert. Solche Sachen eben. Alle halten deinen Vater für einen total tollen Kerl“, schloss Chelsea. „Bist du hierhergezogen, um für immer bei ihm zu leben?“
„Nein“, sagte AJ schnell. „Nur bis … nur eine Weile.“
„Ja, glaub mir, ich weiß, was eine Weile bedeutet. Meine Eltern haben mich für eine Weile bei meinen Großeltern gelassen – das ist jetzt Jahre her.“
Es ging doch nichts über ein ermutigendes Wort von einer Fremden. Einer sehr gesprächigen Fremden. Sie erzählte ihm, dass ihre Großeltern sehr streng und altmodisch waren, über ihre Eltern sagte sie nichts – weder warum sie sie hiergelassen hatten, noch wo sie sich befanden.
Sie wechselte das Thema und wandte sich wieder ihm zu. Die Neugierde war ihr deutlich im Gesicht abzulesen. „Du bist neu hier, oder? Wie heißt du?“
„AJ. AJ Martinez.“
„Wofür steht AJ?“
Es war klar, dass sie das fragen würde, dabei kannte er sie doch gar nicht. Wieso sollte er ihr irgendetwas erzählen? Weil es egal war. Ihn interessierte nicht, was sie von ihm dachte. „Ich habe meine Gründe, warum ich mich AJ nenne“, murmelte er.
„Steht das für einen total bekloppten Namen? Wie Ajax, Apollo Jehosephat oder Able Janitor …“
Er versuchte, nicht zu lachen.
Sie schob ihm einen kleinen Block hin. „Hier, schreib deine Namen auf dieses Stück Papier. Ich werfe nur einen Blick drauf und zerstöre die Beweise dann.“
Mein Gott, dieses Mädchen war aber auch hartnäckig. Er schrieb seine beiden Vornamen auf den Zettel und schob ihn zu ihr zurück. Trotz ihres Versprechens konnte sie natürlich den Mund nicht halten.
„Angel?“, sagte sie so laut, dass sich alle Köpfe zu ihnen umdrehten. Als sie es bemerkte, senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern. „Du heißt Angel?“
„Es wird Anchel ausgesprochen“, murmelte er, wobei das spanische g die Sache auch nicht besser machte. „ Angel Jacinto . Und wir hatten eine Abmachung.“
„Stimmt“, sagte sie. „An- hell . Sorry, AJ.“ Sie riss den Zettel in kleine Fetzen. „Ich mag es, wie sich das auf Spanisch anhört. Sprichst du das fließend?“
AJ nickte. Er hatte nie irgendwelche Unterschiede zwischen Spanisch und Englisch gemacht. Gedanken und Worte flossen frei von einer Sprache in die andere. Erst als er mit der Schule anfing, war ihm bewusst geworden, dass er zwei Sprachen sprach. Dort hatte man ihm beigebracht, dass Englisch die Sprache war, die er benutzen sollte, das Spanische hallte trotzdem immer auch durch seinen Kopf. Es war ausdrucksvoller, bedeutungsvoller. Es war die Sprache seiner Träume.
„Du hast es gut“, sagte Chelsea. „Hast du hier Spanischunterricht?“
Er nickte wieder. Sein Lehrer, Señor Diaz, stammte aus Puerto Rico. Sein Spanisch klang anders als die Sprache, die er gewohnt war, aber es war das einzige Fach, von dem er wusste, dass er es bestehen würde, ohne etwas dafür tun zu müssen.
Es war lustig, dass Chelsea ihn als Glückspilz betrachtete. Er fühlte sich ganz und gar nicht so. Eher wie ein Fisch auf dem Trockenen, sogar im Spanischunterricht. Und sie schien sich auch nicht bewusst zu sein, dass viele Menschen in diesem Land, selbst in Texas, seine Spanischkenntnisse als Grund nahmen, um ihn zu hassen.
Chelsea stellte sich als genauso gute Zuhörerin wie Rednerin heraus. Ohne wirklich einen Plan zu haben, was er ihr erzählen würde, oder zu wissen, warum er das Bedürfnis verspürte, mit ihr zu reden, erzählte er ihr, was mit seiner Mutter geschehen war. Es war das erste Mal, dass er jemandem in allen Einzelheiten davon berichtete.
Wie üblich war er an dem Morgen aufgestanden. Er hörte seine Mama in der Küche zu Ricky Martins „Livin’ la Vida Loca“ aus dem Radio mitsingen – ein Lied, das zu ihrer fröhlichen Stimme passte. Seine Mom war jung und hübsch und kleidete sich wie ein Teenager in Jeans und Turnschuhen. In der Reisverpackungsfabrik, in der sie arbeitete, hatte sie einen Spind, in dem sie einen Overall und ein Haarnetz für die Arbeit aufbewahrte. Seitdem Bruno sie verlassen hatte, machte sie so oft es ging Überstunden, doch der Morgen vor dem Unterricht gehörte immer ihm.
Wie üblich frühstückten sie gemeinsam. Sie hatte ihn Wörter buchstabieren lassen, denn es gab jeden Freitag in der Schule einen kleinen Test. Sie behauptete, ihm bei den Hausaufgaben zu helfen, würde ihr helfen, ihr Englisch zu verbessern, was die Hausaufgaben in seinen Augen ungemein wichtig erscheinen ließ. Er
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