Es klopft
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S eit einer Stunde lag er im Bett und konnte nicht einschlafen. Auf dem Rücken nicht, auf dem Bauch nicht, auf der linken Seite nicht, und auf der rechten auch nicht. Das war ihm schon lange nicht mehr passiert. Er war neunundfünfzig, und gewöhnlich war er am Abend so müde, dass er, nachdem er im Bett noch ein paar Zeilen in einem Buch gelesen hatte, die Nachttischlampe löschte, der Frau an seiner Seite einen Gute-Nacht-Wunsch zumurmelte und nach wenigen Atemzügen einschlief. Erst wenn ihn seine Blase um zwei oder drei Uhr weckte, konnte es vorkommen, dass er den Schlaf nicht gleich wieder fand, dann stand er auf, nahm das Buch in die Hand und schlich sich leise aus dem gemeinsamen Schlafzimmer in seinen Arbeitsraum, bettete sich dort auf seine Couch und las so lange, bis ihm die Augen zufielen.
Er dachte an den morgigen Tag, es war ein Montag, das hieß, dass ihn eine volle Praxis erwartete. Um halb elf waren sie beide zu Bett gegangen, nun zeigten die Leuchtziffern seiner Uhr schon fast Mitternacht, und er sah seine Ruhezeit dahinschrumpfen, denn morgens um sechs würde mitleidlos der Wecker klingeln. Aufstehen und ins Arbeitszimmer wechseln, mit dem Buch in der Hand? Er fürchtete, dadurch seine Frau zu wecken, und er fürchtete ihre Frage, ob er nicht schlafen könne. Warum, würde sie dann fragen, warum kannst du nicht schlafen? Dann müsste er zu einer Notlüge greifen. Manchmal, wenn ihm ein Behandlungsfehler
unterlaufen war oder wenn sich eine folgenschwere Komplikation eingestellt hatte, was zum Glück selten vorkam, stand der Patient nachts plötzlich vor ihm mit seinem ganzen Unglück und wollte ihn nicht in den Schlaf entlassen. Für solche Fälle hatte er ein Schächtelchen Rohypnol in seiner Hausapotheke, aber er hasste es, wenn er sich betäuben musste, und zudem war er mit der Dosierung nie ganz sicher. Nahm er eine ganze Tablette, schlief er zwar gut ein, hatte aber große Mühe mit dem Erwachen und musste noch lange in den Vormittag hinein mit der Wirkung kämpfen, nahm er nur eine halbe Tablette, reichte diese unter Umständen nicht zum Schlafen und gab ihm dennoch am nächsten Morgen ein dumpfes Gefühl. Es hing von der Schwere des Problems ab, ob er die ganze oder die halbe Pille schluckte.
Und heute handelte es sich um ein schweres Problem.
Schließlich stand er leise auf und ging ins Badezimmer. Er nahm seine Zahnbürste aus dem Glas, wusch es aus, füllte es mit Wasser und nahm eine Rohypnol-Tablette aus der Wandapotheke. Einen Moment lang betrachtete er sie, dann stieg er die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer, das Glas in der einen, die Tablette in der andern Hand. Im spärlichen Streulicht, das von draußen hereinfiel, ging er vorsichtig zum Schreibtisch, stellte das Glas ab, legte die Pille daneben und drückte den Schalter der Tischlampe.
Dann lehnte er sich zurück und dachte nach.
Wann genau war es gewesen? Vor 22 oder vor 23 Jahren? Er hatte es fast nicht begriffen damals, von sich selbst nicht begriffen. Nach und nach hatte er sich daran gewöhnt, dass es geschehen war; ändern konnte er es ohnehin nicht mehr, erzählt hatte er es niemandem, die fortschreitende Zeit schob
es jeden Tag etwas stärker in den Hintergrund, und so hatte er es schließlich für verjährt gehalten. Heute war ihm auf einmal klar geworden, dass es eine Verjährung zwar in der Justiz geben mochte, niemals aber im Leben. Er mochte in mancher Hinsicht ein anderer gewesen sein seinerzeit, aber auf seiner Identitätskarte stand immer noch derselbe Name, Manuel Ritter, und diese seine Identität wurde jetzt aufgerufen. Er hatte anzutreten vor seiner eigenen Verantwortung, die hinter dem Gerichtspult saß und mit einem Hämmerchen auf den Tisch schlug, wenn er zu seiner Verteidigung ausholte.
Er atmete tief ein und öffnete die Schublade seines Schreibtischs. Das alles war so lange her, dass er nicht mehr genau wusste, wo er den Umschlag aufbewahrt hatte.
Er zog unter Dokumenten wie seinem Dienstbüchlein, seinem Impfausweis und seinen Arbeitszeugnissen die Kopien seiner Diplome als Arzt und als Facharzt hervor, deren Originale in seiner Praxis hingen, und legte alles auf den Schreibtisch. Als er ein Bündelchen Briefe in der Hand hielt, trat seine Frau ein und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Julia«, sagte er, »du hast mich erschreckt.« »Schau mal an«, sagte sie, »meine Briefe.« Sie fuhr ihm mit der Hand ganz leicht über die Haare. »Beschäftigt es dich, dass unser Sohn so verliebt
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