Oberwasser
kommt jemand«, sagte sie, halb ins Mikrofon, halb zu Tim und Wolfi. Im Inneren des Anwesens schlurfte und fluchte es immer noch, sie klingelte nochmals. Jetzt drehte sich ein verrosteter Schlüssel im Schloss. Auf ein Kopfnicken Nicoles hin begann das kleine Häuflein zu singen:
♫ Grüß Gott, heit is Johannitag,
und jeder, der das Feuer mag,
das droben lodernd brennen soll,
der mach die Büchse hier uns voll!
Der ma-hach die Bü-hü-hüch-se hier uns vo-ho-ho-holl!
Die Tür öffnete sich und zwei uralte, misstrauische Augen blitzten auf.
»Grüß Gott, Herr Hartl«, sagte Tim mit seiner frischen Knabenstimme. »Wir kommen zum Feuersingen und bitten um eine milde Gabe.«
»Feuersingen? Kommts rein«, sagte der grimmige Hartl.
»Danke schön, wir müssen aber gleich weiter«, sagten die beiden Buben unisono und fort waren sie. Der erste Teil des Plans hatte schon mal gut geklappt.
»Es gibt Schmalznudeln!«, rief der Hartl Peter den Fackelläufern nach.
»Die Buben müssen weiter«, schüchterte Nicole fast unhörbar.
»Hast du Hunger?«
»Jou freili.«
Nicole Schwattke wusste, dass das ou in Jou etwas zu dunkel war für den Werdenfelser Dialekt, dass es schon fast oberpfälzisch klang, aber der Hartl hatte sich schon umdreht und schlurfte in den Gang. Bevor sie ihm folgte, sah sie aus den Augenwinkeln, dass Tim und Wolfi schon an der nächsten Haustür standen, dort klingelten und das Lied erneut anstimmten:
♫ Grüß Gott, heit is Johannitag,
und jeder, der das Feuer mag …
Diese Aktion war nicht ausgemacht, aber die Ostler-Buben hatten offenbar die Gabe, zu improvisieren. Das hatten sie von ihrem Vater geerbt, der ihr immer ein wenig wendiger erschienen war als Polizeiobermeister Hölleisen. Und die Zusatzaktion hatte ihren Vorteil: Wenn der Hartl noch einmal hinaussah aus seiner Festung, dann war der ganze Fake mit dem Feuersingen noch glaubhafter. Brave Hilfssheriffs, dachte Nicole, der sehnlichste Wunsch der Buben, eine neue Spielkonsole, sollte ihnen unbedingt erfüllt werden.
»Da hinein, Madel«, grunzte der Hartl.
Sie betraten eine geräumige Bauernstube mit altem Gebälk, wurmstichigen Sparren und einem wunderbar schiefen Boden. Auf dem Tisch stand ein riesiger Holzteller mit unendlich vielen Schmalznudeln.
»Hock dich hin!«, befahl der Hartl Peter. Nicole achtete peinlich darauf, ihn nicht im Rücken zu haben, sie drückte sich an der Wand entlang und setzte sich auf die Holzbank. Das wirkte schüchtern, das passte zum Gesamtbild des gehemmten Mädchens mit der Zahnspange, das fiel nicht auf. Der Hartl setzte sich dazu. Er kramte in der Hosentasche und holte ein paar Münzen heraus, die er über den Tisch schob.
»Das Feuergeld. Teil es mit den Buben. Und jetzt iss!«
Nicole biss in die Schmalznudel. Sie schmeckte herrlich. Sie hatte etwa zwanzigtausend Kalorien, aber sie schmeckte herrlich.
»Soso, ihr lasst also die alten Bräuche wieder aufleben!«, sagte der Hartl. »Ich hab schon zwanzig Jahre keine Feuersinger mehr gesehen.«
Nicole nickte und schaute auf den Tisch. Ab und zu warf sie kleine, verstohlene Blicke zum Hartl Peter hin. Lag da etwas Beobachtendes, Lauerndes in seinem Blick?
»Der Volkstrachtenverein!«, murmelte sie.
»Ja, der Volkstrachtenverein, der pflegt die alten Bräuche. Schmeckts?«
»Freilich!«
»Und wem g’herscht na du?«
Diese Frage hatte sie befürchtet. Aber sie hatte kommen müssen. Und nun folgte der schwierigste Teil der Operation. Noch vorgestern hätte Nicole diese Frage gar nicht verstanden, jetzt wusste sie, dank Ostler, dass es die Frage nach der familiären Herkunft war.
Wem g’herscht na du?
hieß soviel wie: Aus welchem Clan stammst du, wer ist dein Vater, wie ist dein Hausname?
»Am Hoaraga Xari!«
Für eine Westfälin war das eine Spitzenleistung, es war Weltrekord in In-fremden-Zungen sprechen. Jetzt kam es drauf an, ob er das schluckte.
»Hat der Hoaraga seine Wiesen am Anger-Hölzl schon verkauft?« Keine Ahnung von einem Anger-Hölzl. Sie griff stattdessen zu Plan B.
»I muass aufs Häusl«, sagte sie unvermittelt, sie verzog das Gesicht dabei, sie blickte verzweifelt, und fast traten ihr echte Tränen in die Augen. Der Hartl musterte sie. Das
muass
war ihr ihrer Ansicht nach gut gelungen. Sie kam langsam in Fahrt.
»Gradeaus und die erste Tür rechts«, sagte er. Er nahm eine Schmalznudel und biss hinein.
»Dankschee«, sagte Nicole. »Bin glei wieda da.«
Geschafft. Nicole stand auf, achtete wieder
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