Oberwasser
darauf, den Hartl nicht im Rücken zu haben, verließ den Raum, ging den Gang entlang, zügig an der beschriebenen Toilettentür vorbei, lief eine Holztreppe hinunter. Wie bei solchen Polizeiaktionen üblich, hatten sie natürlich vorher den bauamtlichen Grundriss sämtlicher Ebenen des Hauses genau studiert. Es war zwar ein Plan aus dem Jahre 1929 gewesen, einen neueren gab es nicht, und man konnte natürlich nicht wissen, ob inzwischen umgebaut worden war. Aber ein Anhaltspunkt war es schon. Nicole zückte ihr Smartphone und fotografierte.
»Ich bin jetzt im Keller«, flüsterte sie ins Mikrofon, das unter ihrem Kopftuch versteckt war. Sie gab das Planquadrat an, hatte jetzt vor, sich in einen Raum nach dem anderen zu verlaufen. Sie hoffte, dass der Hartl oben eine besonders fette, wohlschmeckende Schmalznudel erwischt hatte. Auf dem Boden lag ein schmutziger Lumpen. Sie schnitt mit einer Nagelschere ein Futzelchen ab und steckte es in die Beweissicherungstüte. Dann kam sie an einer Art Flaschenlager vorbei, einem Regal mit einer chaotischen Ansammlung von Röhren und Kolben, wahrscheinlich uraltes Gerümpel, um Bier zu brauen. Sie fotografierte es. Sie betrat zwei weitere Räume, die mit Plunder aller Art vollgestopft waren, nichts wies auf Folterkeller oder Waffenlager hin. Trotzdem fotografierte sie alles. Sie öffnete eine Tür und kam in den nächsten Raum. Nach Luft schnappend wich sie zurück, denn hier schlug ihr ein beißender Geruch entgegen. Unwillkürlich griff sie zur Dienstwaffe, obwohl die wohl kaum geeignet gewesen wäre, diesen bestialischen Gestank zu bekämpfen. Sie schnupperte. Er war der Geruch von Fleisch, von nasser Haut, von frischem Blut. Sie streifte einen Einmal-Handschuh über, knipste den Lichtschalter an. Noch einmal wich sie zurück. Ein halbes Dutzend gehäutete Schweine hingen an Haken von der Decke, sauber nebeneinander aufgereiht, vermutlich zum Räuchern. Sie nahm die Hand von der Walther. Sie entspannte sich. Sie fotografierte die schaurige Speisekammer.
»Der räuchert hier Schweine im Keller«, sprach sie ins Mikrofon, und sie sah Becker vor sich, wie er diese Nachricht belustigt aufnahm.
Nach dem Plan, den ihnen das Bauamt zur Verfügung gestellt hatte, gab es noch einen letzten Raum. Es war das Ende einer Schmalznudel-Länge, es war auch das Ende eines Toilettenbesuchs einer Vierzehnjährigen. Sie trat hinein. Er war dunkel, und der Lichtschalter funktionierte nicht. Sie schaltete ihre kleine Taschenlampe an und leuchtete quer durch den Raum. Er war leer. Er war feuchtkalt. Sie durchquerte den Raum. Auf ihrem Plan war der Raum größer gewesen. Sie berührte die gegenüberliegende Wand mit den Fingerspitzen. Sie war eiskalt und feucht. Nicole hörte Wasser rauschen. Ein Frösteln kroch an ihr hoch.
28 .
Nicht unweit vom Hartl-Hof, ebenfalls ziemlich zentral im Kurort gelegen, thronte die alteingesessene Metzgerei Kallinger, von der es hieß, dass es dort bayernweit den besten Leberkäse gäbe, darüber hinaus weltweit die besten Weißwürste, wenigstens hatte sich dieser Ruf aus den Achtzigerjahren gehalten, und das ist ja auch schon eine Leistung. Der Metzger Kallinger hatte im Laden eine kleine Imbissecke eingerichtet, die zum Treffpunkt für die Ratschkathln und Gerüchteköche im Ort geworden war. Drüben in der Bäckerei Krusti nahm man einen Kaffee und eine Semmel – hier beim Kallinger genoss man den heißen Leberkäs’.
»Früher«, rief ein Gymnasiallehrer für Latein und Geschichte und stieß mit dem Plastikgäbelchen in die dampfende Masse, »früher, da durfte nur der Adel das Hochwild schießen.«
Er tauchte den Leberkäs’ in einen Kübel mit extrascharfem Senf. »Das hat die einfache Bevölkerung erzürnt«, fuhr er fort. »So sind im Voralpenland die ersten Wilderer aufgetaucht. Der Laimdrachsler Beppi aus Lenggries, der Kohlbrenner Hiasl aus Ehrwald –«
»Jetzt, wo bald Ferien sind, Herr Oberstudienrat«, rief die Metzgerin hinter der Theke hervor, »da könnten Sie doch ein Buch darüber schreiben.«
»Die ganze Zeitung ist voll mit der depperten Geschichte auf der Schröttelkopf-Alm«, schimpfte der Kottesrieder Loisl, ein Kaminkehrer und ehemaliger Eishockey-Spieler. Er blätterte kopfschüttelnd das Lokalblatt durch. »Da liest man ja nichts anderes mehr! Wildern, Wildern, Wildern.«
»Dann lies halt hinten die Todesanzeigen«, schlug seine Frau, die Kottesrieder Rosalinde vor. »Da kommt nichts vom Wildern vor.«
»Weiß
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