Oberwasser
hier«, sagte Ignaz, als der Abend schon dämmerte. »Ich möchte nichts mehr riskieren.«
Ursel seufzte.
»Aber du hast doch das Risiko am meisten mögen.«
»Das mag ich immer noch. Aber ich möchte nicht noch einmal überstürzt abhauen müssen. Und momentan wüsste ich auch nicht, wohin.«
»Wir haben uns doch dazu entschlossen, eine bürgerliche Existenz aufzubauen, und das machen wir auch. Wir sind nicht mehr auf der Flucht.«
»Glaubst du, dass unser Telefon abgehört wird?«
»Da bin ich mir ganz sicher. Das hat aber einen Vorteil: Wenn wirklich jemand aus Italien anruft, dann können die Kieberer mithören, wie wir die Freunde abwimmeln. Das ist der Beweis für unsere guten Absichten.«
»Die italienischen Freunde werden aber nicht anrufen. Die werden, wenn schon, persönlich vorbeikommen.«
»Die kommen nicht vorbei. Das ist auch für die viel zu riskant.«
Sie schwiegen wieder. Es wurde langsam dunkel. Der Mond –
»Aber sag einmal, was ist denn das für eine Sache: Ein Wilderer und ein Jäger, ein Duell hoch droben auf der Alm – wie vor hundert Jahren! In der Zeitung stehen seitenlange Berichte darüber. Und das komplette Team der Mordkommission IV ist im Ort, um den Fall zu untersuchen.«
Ignaz Grasegger griff nach einem panierten Wammerl und biss nachdenklich hinein.
»Schon komisch, ja. Hast du den Jennerwein gesehen? Der war total nervös.«
»Mir scheint, der hat sich überhaupt nicht gefreut, uns zu sehen.«
Wieder langes, dauerhaftes Schweigen. Der Mond, das angebissene Schmalzbrot, hing zwischen zwei dünnen Ahornbaumzweigen. Ignaz, der Hardcore-Volksmusikliebhaber, warf eine CD mit den Herbratzederdorfer Dirndln und dem Obermugginger Viergesang ein.
♫ As Gamserlschiassn is mei Freid
sangen sie, danach
♫ Hörst du das Pfeifen vom Murmeltier droben …
, und Ignaz kannte die meisten Texte auswendig.
»Wegen uns war der Jennerwein sicherlich nicht nervös. Da stimmt doch was nicht.«
»Das kann uns aber eigentlich egal sein. Wir machen jeden Tag einen Spaziergang aufs Revier und lassen uns unsere Unterschrift geben. Ich bin langsam zu alt fürs Kriminelle.«
»Du hast recht. Wir mischen uns da nicht ein. Nicht mehr. Der Goldacker vertritt uns gut, wir sind sozusagen in Rente gegangen, und als Hobby bauen wir uns eine bürgerliche Existenz auf.«
Langsam dämmerte es. Rechtsanwalt Goldacker war nicht nach Hause gegangen. Rechtsanwalt Goldacker schlenderte nochmals über den Friedhof. Lange musste er nicht suchen, da fand er das Grab vom Reininger Sepp. Er studierte die Grabtafel. Sein schwaches StGB-§§- 263 -ff-Juristenherz schlug schneller. Er hatte es sich schon gedacht, aber hier stand es in Marmor gemeißelt: Der Reininger Sepp war zwei Jahre
vor
dem verheerenden Feuer auf dem Grasegger-Anwesen gestorben und hier beerdigt worden. Der Sarg war natürlich nicht verbrannt. Der Rechtsanwalt, sonst eben nicht religiös, bückte sich und tauchte die Finger in den Weihwasserkessel. Die haben mich angelogen, dachte er. Denen kann man kein Stück über den Weg trauen.
Auf der nächtlichen Terrasse der Graseggers gab es – ja, zu dieser Tageszeit! – Weißwürste. Das hatten sich die beiden gegenseitig versprochen, als sie fern der Heimat die Via Francigena hinuntergewandert waren. Es waren keine schlichten Weißwürste, es waren ganz besondere Weißwürste, nach einem Rezept von Onkel Ludwig aus Grainau. Ursel nahm eine Weißwurst aus der Steingutschüssel, biss hinein und saugte ein Stück heraus. Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück, als ob sie an einem Joint gezogen hätte.
»Daran hab ich oft denken müssen.«
»Sollen wir es wieder rausholen?«, fragte Ignaz.
»Was rausholen?«
»Na, was schon! Das terminierte Geld.«
»Warum?«
»Die wollen den Euro wieder abschaffen.«
»Dann täten wir sauber dasitzen.«
»Sicherheitshalber sollten wir das Geld rausholen.«
»Und gleich in Gold umtauschen.«
»Aber wer tauscht
uns
zwei Millionen Euro in Gold um?«
»Die Kreissparkasse jedenfalls nicht.«
26 .
Unkonzentriert nahm Holzmayer Veronika das Rezept entgegen. Die Kundin verlangte nach Rohypnol. Sie starrte dabei auf ein rot-schwarzes Plakat, das die Polizei in der Apotheke aufgehängt hatte:
Keine Macht den Drogen!
Die Kundin schien keinen Zusammenhang zwischen ihrem wöchentlichen Einkauf und dem Plakat herzustellen. Nachdem sie gegangen war, schweiften Veronika Holzmayers Gedanken ab, hin zu ihrem Geliebten, dem Mühlriedl Rudi. Den
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