Ocean Rose. Erwartung (German Edition)
Ausflug zu den Klippen nur so frustriert gewesen. Und so war die ganze Verbitterung aus mir herausgebrochen, die sich aufgestaut hatte, weil ich mich seit sechzehn Jahren vor allem und jedem fürchtete. Ich wollte ihr erklären, dass Mom nur im falschen Moment am falschen Ort gewesen war und mir versprochen hatte, nichts zu sagen, solange ich Justine nur davon abhielt, beim nächsten Mal wieder zu springen– und dass ich das gar nicht erst versucht hatte, weil ich meine Schwester nie von etwas abbringen wollte, was sie glücklich machte. Vor allem wollte ich ihr sagen, dass mir alles leidtat, ganz furchtbar leid.
Aber ich konnte nicht. Ich konnte einfach nichts sagen. Vielleicht hatte ich Angst, dass die Worte falsch herauskommen würden, jedenfalls war mein Kopf ganz leer.
»Und was hast du für Pläne mit diesem Carmichael-Jungen?«, wollte Mom wissen.
Ich riss die Augen auf und schaute zwischen Mom und Justine hin und her. Von Caleb hatte ich definitiv nichts erzählt.
Justine wurde rot. »Pläne?«
»Während du von Klippen springst und wer weiß was mit einem netten Jungen anstellst, der kaum den Unterschied zwischen einer Spielkonsole und einem Notebook kennt, riskierst du deine gesamte Zukunft. Dartmouth College. Exklusive Ausbildung. Medizinstudium. Erfolg und Zufriedenheit für viele Jahre.«
»Schmeckt das Steak nicht wunderbar?«, fragte Dad. »Nicht zu kross und nicht zu saftig.«
»Ich glaube kaum, dass ich mein Leben ruiniere, nur weil ich ein bisschen Spaß habe.« Justine schob ihren Stuhl zurück, ihre blauen Augen blitzten in der grauen Dämmerung. »Im Übrigen gibt es Dinge, die wichtiger sind als eine Ausbildung an einer überschätzten Eliteschule und ein Beruf zum Geldscheffeln.«
»Big Papa hat eine Idee«, warf Dad ein und leckte sich die Finger ab. »Was haltet ihr von einem Waffenstillstand bis morgen, wenn wir alle eine Nacht voll Schlaf hinter uns haben?«
Justine stand auf, wobei ihr unverletztes Knie gegen den Tisch stieß und die Teller und Gläser zum Scheppern brachte. Beim Vorbeigehen beugte sie sich in meine Richtung, und ihre Augen schienen noch heller als gewöhnlich, als würde ein inneres Licht sie erleuchten. Sie hielt ihren Kopf so, dass Mom und Dad ihr Gesicht nicht sahen, und sagte nur ein einziges Wort, gerade laut genug, damit ich es hören konnte.
»Buh.«
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Wie betäubt schaute ich zu, während sie die Veranda überquerte und ins Haus verschwand. Die Tür fiel krachend hinter ihr zu.
»Ich will ja nur, dass sie nicht auf eine falsche Bahn gerät«, sagte Mom nach einer Pause.
»Und ich wollte nur, dass mir jemand beim Streichen des Hauseingangs hilft«, fügte Dad hinzu. »Ich habe sie damit aufgezogen, dass der Kratzer am Bein ein Trick ist, um sich vor der Arbeit zu drücken, aber jetzt sieht es ganz so aus, als ob ich wirklich allein loslegen muss.«
Ohne sie zu beachten, starrte ich auf den See.
Buh. Nicht etwa »vielen Dank auch« oder »diesmal hast du es wirklich vermasselt« oder sogar »in Zukunft kannst du allein zurechtkommen«. Das alles hätte vermutlich ausgereicht, mir Tränen in die Augen zu treiben, aber nichts davon hätte so ein Kribbeln auf meiner Haut erzeugt wie dieses eine Wort.
Damals konnte ich es noch nicht wissen, aber das war das Letzte, was Justine jemals zu mir sagen würde. In den Tagen und Wochen, die darauf folgten, würde ich diesen Moment immer und immer wieder in meinem Kopf zurückspulen, den Blick in ihren blauen Augen sehen, ihre leise Stimme hören und aus irgendeinem Grund Salzwasser riechen … so als stände sie noch neben mir oben auf dem Kliff mit der Feuchtigkeit des Meeres auf der Haut und im Haar.
K APITEL 2
A ls ich das erste Mal die Sirene hörte, stand ich im Sand und betrachtete die Wellen, die nach meinen nackten Füßen leckten. Ein schneidender Wind ließ mir den Rock um die Knöchel flattern und trug das Geräusch von Mom, Dad und Justine zu mir her, die über etwas lachten. Der leise, singende Heulton begann, sobald der Schaum sich um meine Füße wand, genau wie jeden Abend bei Einbruch der Dunkelheit in den letzten zwei Jahren. Nur dieses Mal verebbte er nicht, als mich das Wasser hinaus und in die Tiefe zog. Er klang lauter, näher. Und dann kam eine weitere Sirene hinzu und eine weitere, bis ich sie nicht nur hören, sondern sehen konnte, rot-weiß-blau flackernde Lichter, als seien die Polizeiwagen direkt bis ins Meer gefahren.
»Du solltest wirklich
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