Ocean Rose. Erwartung (German Edition)
unterscheiden können, welches von den beiden Kindern auf der jährlichen Familie-Sands-Weihnachtskarte ich und welches Justine war. Das meiste, was Mom in ihrem Leben tat, machte für mich keinenSinn. Aber in Dads Augen war sie wie die Sonne, der Mond und die Sterne, also hielt ich den Mund.
»Sie sieht so wunderhübsch aus«, sagte Dad nach ein paar Minuten.
Ich folgte seinem Blick zu der mit Fotos bestückten Pinnwand, die über Justines Schreibtisch hing, und wünschte mir, weinen zu können. Denn dort war sie überall. Beim Wildwasserpaddeln in den Berkshire Mountains. Beim Reiten in den Dünen von Cape Cod. Mit Freunden auf dem Campus ihrer Privatschule. Beim Bergwandern in New Hampshire. Und dann mein Lieblingsfoto, das sie vergrößert und in die Mitte der Pinnwand gehängt hatte: beim Angeln in unserem alten roten Ruderboot auf dem See in Maine – zusammen mit mir.
»Ich weiß noch, wie ich das geknipst habe«, meinte Dad. »Wollte immer wissen, was sie wohl gesagt hat, um dich so zum Kichern zu bringen.«
Er hatte das Foto vom Bootsanleger hinter dem Haus aufgenommen. Wir saßen mit dem Rücken zur Kamera. Justine hatte mir den Kopf zugewandt, und ich schaute in den Himmel. Meine Schultern waren fast bis zu den Ohren hochgezogen, was mir immer passierte, wenn etwas mich so zum Lachen brachte, dass mir die Tränen nur so übers Gesicht liefen.
Ich blinzelte. Nichts.
»Wahrscheinlich Teenagergeheimnisse, habe ich mir gedacht«, fuhr er fort. »Schminktipps. Jungs. Besser, wenn ich nichts davon wusste.«
»Ja, wahrscheinlich«, erwiderte ich. »Immerhin hatte sie so viele Romanzen, dass die Verehrer wie mit einer Drehtür aus und ein gingen. Also haben unsere Gespräche über Jungs meistens eine ganze Weile gedauert.«
»Ich verstehe immer noch nicht, warum sie ständig Aufmerksamkeit dieser Art gebraucht hat«, sagte er nachdenklich. »Sie war so klug, so schön und talentiert. Aber anscheinend konnte sie das selbst nicht glauben, außer sie bekam es jede Woche von einem anderen Jungen bestätigt.«
Ich sagte nichts dazu. Justine hatte die Aufmerksamkeit nicht unbedingt gebraucht – sie hatte sie einfach bekommen.
Wir nippten stumm an unserem Kaffee. Nach einem Augenblick stieß Dad einen langen Seufzer aus. »Ich sollte wohl eine Weile den Gastgeber spielen«, meinte er und stand auf. »Du kommst zurecht?«
Ich nickte. Er legte mir kaum merklich die Hand auf den Kopf, bevor er das Zimmer verließ und die Tür schloss.
Ich blinzelte und wartete. Als die Tränen immer noch nicht kommen wollten, wandte ich mich wieder dem Foto in der Mitte der Pinnwand zu und dachte darüber nach, was Big Papa gerade gesagt hatte. Es ergab keinen Sinn. Aber auf der anderen Seite ergab jetzt fast nichts mehr einen Sinn.
Die Polizei behauptete, es sei ein Unfall gewesen, Justine sei einfach nur zur falschen Zeit von der Klippe gesprungen. Bei Dunkelheit. Beim Höhepunkt der Flut. Polizeidirektor Green hatte gesagt, das Wasser sei zu tief und die Strömung viel zu stark gewesen. Selbst Triton, der griechische Gott des Meeres, der die Wellen mit einem Stoß in sein Muschelhorn beherrschen konnte, wäre dagegen nicht angekommen. Der Gerichtsmediziner hatte ihm zugestimmt.
Ich aber nicht.
Ja, es stimmte, Justine war ein Adrenalinjunkie. Und in jener Nacht hatte sie vielleicht das Gefühl gehabt, etwas beweisen zu müssen. Aber sie war zu klug gewesen, um sich so unvorsichtig zu benehmen.
Als mein Blick über die Pinnwand wanderte, entdeckte ich zwischen den Fotos dünne schwarze Linien. Zuerst sahes aus, als habe jemand mit Zeichenstift auf das Futter aus Stoff geschrieben … aber die Striche befanden sich nicht auf dem elfenbeinfarbenen Satin, der die Pinnwand bedeckte. Der Hintergrund der Fotos war immer noch weiß.
Ich stand auf und stellte mich vor den Tisch, um einen besseren Blick zu haben. Da sah ich, dass es sich bei den Strichen um gedruckte Worte handelte.
Name. E-Mail. Telefonnummer. Elternteil 1. Elternteil 2. Frühere Entscheidung. Finanzhilfe. Campus. Abschluss. Weiterführende Schule. SAT-Examen. Außerschulisch. Auszeichnungen.
Ich wollte schon die erste rote Reißzwecke herausziehen, als ich mich plötzlich unbehaglich fühlte. Geradezu schuldbewusst. Als würde ich Justines Schreibtisch nach ihrem Tagebuch durchsuchen, um von heimlichen Küssen und privaten Gesprächen zu lesen, die sie für sich behalten hatte.
»Tut mir leid«, flüsterte ich, bevor ich die erste Reißzwecke
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