Ochajon 03 - Du sollst nicht begehren
umdrehte, um zu gehen, sagte sie: »Wie geht es dir?«, in einem beiläufigen Ton, als erwarte sie gar keine Antwort, und als er etwas über das feierliche Jubiläum sagte, nickte sie mechanisch und schaute sich um, als suche sie jemanden . Aharon räusperte sich und sagte: »Ich hoffe, wir sehen uns noch. Es gibt ein paar Dinge, die ich gerne mit dir besprechen würde.« Erst jetzt sah sie ihn mit dem lebhaften Blick an, an den er sich erinnerte und der ihm sofort das Gefühl gab, ein Kind und völlig durchschaubar zu sein.
Sie blickte ihn ein paar Sekunden lang an und sagte, als fasse sie alles zusammen, was sie in ihm gesehen hatte: »Ich erwarte dich am Abend, falls du bei uns bleibst.« Er versprach zu kommen. »Nach dem Programm«, sagte sie, »nach dem Abendessen. Wir haben eine Menge zu besprechen.«
Aharon nickte folgsam und schluckte. Sie standen vor der Theke, an der die Hauptgerichte ausgegeben wurden, und hielten Tabletts in den Händen. Um ihr die Hand zu geben, mußte er das Tablett ablegen, und inzwischen hatte sich hinter ihnen bereits eine Schlange gebildet. Mojsch stand in einer Ecke des Speisesaals, neben dem Saftbehälter, und Aharon sah aus den Augenwinkeln, wie er sich, während er den Saft in eine hohe Kanne füllte, zu einer Frau beugte, die mit ihm sprach, und ihr konzentriert zuhörte. »Du warst lange nicht mehr bei uns«, sagte Frojke, der hinter der Theke stand und Essen austeilte. »Ich habe heute Küchen dienst«, sagte er entschuldigend, aber vielleicht war es nicht entschuldigend gemeint, sondern nur erklärend.
Dworka war Aharons erste Lehrerin im Kibbuz gewesen, die Erzieherin der sechsten Klasse. Er erinnerte sich an ihre von grauen Strähnen durchzogenen dunklen Haare, die sie zu einem Knoten zusammengebunden hatte, an ihren Geruch nach Seife, an die dunkle Kleidung, die hohe Gestalt und die begeisterte Stimme. Er erinnerte sich an die freund liche Art, mit der sie ihn korrigiert hatte, als er sie mit »Frau Lehrerin« ansprach, und daran, wie sie ihren Namen nannte, Dwora, wie ihr Name eigentlich lautete, mit der Betonung auf der letzten Silbe. Sogar jetzt, im Speisesaal, mitten im Sommer, konnte er noch das Geräusch ihrer schwarzen Gummistiefel hören, die sie damals an kalten, regnerischen Tagen getragen hatte. Und als er nun ihre Hand drückte, empfand er wieder ganz deutlich die alte Beklemmung. Die Erinnerung an den Geruch in den Gemeinschaftsduschen stieg scharf in ihm auf, an das bedrükkende und verwirrende gemeinsame Aus- und Anziehen von Jungen und Mädchen. Die Sicherheit, mit der Hadas ihre gebräunten Beine in ihre blauen Hosen schob, im Sommer in die kurzen, die einen Gummizug an den Beinen hatten und aus festem Stoff waren, fast wie Segeltuch, im Winter in die langen. Die Wäsche wurde immer in großen Bündeln ins Kinderhaus gebracht. Auch die wenigen Kleidungsstücke, die er von zu Hause mitgebracht hatte, wurden zur Wäscherei geschickt. Manchmal trug Uri sein kariertes Hemd. Allmählich verwischten sich die Besitzverhältnisse, und er trug die Sachen aus der Wäscherei, genau wie alle anderen, ohne die Kleidungsstücke zu suchen, die einmal ihm gehört hatten.
In dem Jahr, in dem sein Vater starb, in den Pessachferien*, hatte ihn seine große Schwester, die schon beim Nachal* war, ins Zimmer des Sekretärs gebracht, hatte seine flehenden Blicke, ihm beizustehen, ignoriert, ihn mit Dworka zurückgelassen und war gefahren. Mojschs Familie hatte ihn damals aufgenommen. Nach dem Unterricht und der Arbeit war er zum Zimmer Srulkes und Mirjams gegangen, Mojschs Eltern. Auch heute genügte der Gedanke an Srulke, um die Angst zu fühlen, die er damals ihm gegenüber empfunden hatte, Angst und Unbehagen, ein dumpfes Gefühl der Fremdheit und Reizbarkeit, als sei er noch immer verpflichtet, bestimmte Erwartungen zu erfüllen, um akzeptiert zu werden. Und auch heute wußte er nicht, um welche Erwartungen es sich gehandelt hatte, doch Srulke war es, ebenso wie Dworka, immer gelungen, ein Gefühl der Schuld und der Scham in ihm zu wecken, als habe er in einem ganz wichtigen Punkt versagt. Aharon war damals, jedenfalls in seinen eigenen Augen, der bedauernswerteste Junge der ganzen Welt gewesen, und Dworka gelang es trotz ihrer pädagogischen Begabung, trotz all ihrer Anstrengungen nicht, die Trennlinie zu verwischen, die klar zwischen ihm und den Kindern des Kibbuz bestand. Im Speisesaal hatte Dworka kein Wort über seinen politischen Werdegang gesagt, hatte weder
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