Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
Flöten sagten, und ein paar geistreiche Erklärungen für die Spannung zwischen aufsteigenden und absteigenden Tönen lieferten, konnten die Überflutung durch die Musik nicht aufhalten. Zunächst schien sie das Zimmer zu erfül len, den Raum um ihn herum einzunehmen. Durch sein Beharren auf einer genauen Identifizierung der Bläser und ihres Kampfes gegen Pauken und Streicher versuchte Michael, zwischen der musiktrunkenen Luft und ihm selbst eine Grenze zu ziehen. Er bemühte sich, den Kontrabaß einzeln herauszuhören, und deklamierte sogar laut und deutlich:
»Erster Satz un poco sostenuto – allegro : Eröffnung, Takt eins bis siebenunddreißig ... neuer Gedanke ...«
Doch seine Worte drangen kaum in sein Inneres, denn der Klang der Musik überlagerte sie, stellte sie in den Schatten und nahm ihnen jede Bedeutung. Eine ganze Weile stand Michael wahrhaftig zitternd da, und eine Stimme in seinem Innern wunderte sich und verspottete ihn, wie er hinter der magischen Kraft der vertrauten Akkorde hertrottete. Sie wies ihn an, das Gerät abzuschalten und sich, wenn überhaupt, etwas anderes anzuhören.
Doch eine weitere Stimme, die stärker war als er, fügte sich gerade der Erregung, die ihm den Atem raubte. Die Klänge waren nahezu unheilvoll bedrohlich, dunkel und düster, und dennoch waren sie so schön. Sie riefen dazu auf, ihnen zu folgen, sich der unheilverheißenden Finsternis hinzugeben. Sie fluteten, strömten, zeigten ihre Stärke, jagten einander, drehten und bekämpften sich.
Michael setzte sich und legte das Beiheft auf die Sessellehne. Er dachte daran, daß einer der Wege, quälende Bürden abzuschütteln, sie schlummern zu lassen und zu einer Art Ruhe zurückzukehren, darin bestand, sie einfach zu ignorieren. Es gab aber auch Zeitgenossen, die überzeugt waren, daß die Sorgen dann von hinten über einen herfal len würden, wie Diebe in der Nacht (»Wenn du am wenigsten mit ihnen rechnest, ausgerechnet dann, stecken dir all diese Probleme, denen du zu entrinnen versuchst, von hinten ein Messer zwischen die Rippen«, pflegte Maja zu sagen. Die Erinnerung an den dünnen Finger, der warnend vor seinem Gesicht hin- und herpendelte und zärtlich auf seiner Wange landete, an ein angedeutetes Lächeln und an Augen, die ihn mit großer Strenge fixierten, versetzte ihm wieder einen Stich). Auf einmal wollte er den Grund herausfinden, warum er so aufgewühlt war.
Deshalb mußte er diesen Zustand genau durchleuchten. Er mußte den richtigen Abstand wahren und durfte es vor allem nicht zulassen, daß die Erregung ihn überwältigte und Besitz von ihm ergriff. Vielmehr mußte er ergründen, wie sie zustande kam.
Man konnte die Musik zum Schweigen bringen, und man konnte hartnäckig sein und die CD wieder von Anfang an hören. Man konnte aufmerksam den Feinheiten lauschen, der Weichheit des forte in dieser Aufnahme, oder den Einsatz des zweiten Themas und sogar die Durchgangspassagen zwischen den Themen heraushören.
Er ging in die Küche und sah auf die Decke in der Hoffnung, die Flecken seien kleiner geworden oder zumindest nicht noch weiter ausgelaufen. Doch es war ganz offensichtlich, daß sie sich vergrößert hatten, seit er sie zuletzt, vor zwei Tagen, einer ernsthaften Untersuchung unterzogen hatte.
Was gingen ihn die Flecken an, fragte er sich aufgebracht, als er in der Küchentür stand – die Klänge erfüllten die gesamte Wohnung. Im Grunde war die Reparatur Sache der Mieter über ihm, und für ihn ging es nur um ein rasches Überpinseln der schwarz-grünlichen Flecken, rief er sich zur Räson. Nichts weiter als ein kurzer Anstrich, der die Flekken verschwinden lassen würde.
Er schaute erneut auf das Heft, das auf der Sessellehne lag, ging zum Regal und drückte auf den Knopf. Nun herrschte wieder völlige Ruhe. Das Telefonkabel, das er aus der Buchse gezogen hatte und das sorgfältig zusammengerollt dalag, könnte ihm Rettung bringen.
Wenn er das Telefon nun wieder einstöpselte, würde es vielleicht läuten. Und dann? Nehmen wir einmal an, es läutet tatsächlich, fragte er sich, was dann? Gehen wir einmal davon aus, er räume der Welt die Möglichkeit ein, in seine vier Wände einzudringen. Das Resultat könnte ein Abendessen im Hause Schorer sein, oder ein Besuch bei Zila und Eli und nicht zuletzt ein Abend bei Balilati, dem Michael allerdings bereits vor zwei Tagen eröffnet hatte, daß er den Feiertag bei seiner Schwester verbringen würde. Er hatte diesen Vorwand gebraucht, um sich das
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