October Daye: Winterfluch (German Edition)
einem Kelpie zu stellen. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass diese Bereitwilligkeit ausschließlich auf Tollkühnheit beruhte. So wich er einen Schritt zurück und bleckte dabei eine beeindruckende Ansammlung von Fängen.
»Geh einfach weiter«, sagte ich. Das schien ihm den Rest zu geben. Der Kelpie schnaubte, als wolle er sagen, dass es in der Stadt gewiss einfachere Beute gäbe, und rückte einen weiteren Schritt zurück. Seine Umrisse verblassten im Nebel, bis sie schließlich gar nicht mehr zu erkennen waren. Tarnung ist die erste und beste Verteidigung des Jägers. Ich blieb einige Minuten stehen und wartete, ob er wieder auftauchen würde, bevor ich die Hände in die Taschen zurücksteckte und weiterging, nun etwas schneller. Der Kelpie mochte zwar jetzt verschwunden sein, doch es gab nichts, was ihn davon abhielt, mit Freunden zurückzukommen. Und mehr als einen würde ich mit einem Bluff nicht täuschen können.
Kelpies auf den Straßen von San Francisco zu sehen ist ärgerlich und etwas nervenaufreibend, aber kein Grund zur Sorge. Sie verfügen über Trugbanne, um sich zu verbergen, wenn es notwendig ist, und sogar ich kann mich eines Kelpies erwehre n – sie beißen zwar, wenn man zu nah rangeht, aber sie sind nicht wirklich gefährlich, solange man sich weigert, auf ihnen zu reiten. Es ist gar nicht so verkehrt, wenn sich ein paar Ungeheuer in den Schatten herumdrücken. Sie erinnern mich daran, wovor ich weglaufe.
Dasselbe gilt für meinen Namen, und deshalb habe ich ihn nie in einen gewöhnlicheren umgeändert. Meine Mutter war nun mal, was sie war, und ich bin das, was sie aus mir gemacht hat. Sie hielt »October« für einen ganz normalen Namen für ein kleines Mädchen, sogar für eines, das 1952 während der Blütezeit des menschlichen Konservatismus geboren wurde. Und wenn der Nachname des kleinen Mädchens noch dazu »Daye« lautete, na ja, umso besser. Sie war schon damals ausgeflippt, und heute fehlt sie mir.
Der Himmel wurde heller. Meine Begegnung mit dem Kelpie hatte mich so sehr aufgehalten, dass es gefährlich knapp werden konnte. Ich beschleunigte meine Schritte ein wenig. Im Freien vom Sonnenaufgang überrascht zu werden würde mich vielleicht nicht umbringe n – der Sonnenaufgang ist schmerzhaft, aber nicht tödlic h – , doch die Zeit der Morgendämmerung verheißt auch einen massiven Anstieg der menschlichen Bevölkerung, und das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war, dass jemand beschlösse, ich bräuchte medizinische Hilfe, während meine Trugbanne unwirksam waren. Ich sehe Menschen zwar ähnlicher als viele Wechselbälger, aber »ähnlich« genügt auf den Straßen einer Menschenstadt noch nicht.
Die Straßenlaternen flackerten über mir und erloschen dann, eine letzte Warnung vor dem nahenden Morgen. Die Zeit war um. Ich stellte den Kragen meines Mantels auf, um mich etwas besser zu schützen, und fing an zu rennen, wenn es auch wenig helfen würde. Ich befand mich noch mehrere Blocks von meiner Wohnung entfernt, und das Licht bewegte sich wesentlich schneller als ich. Es war ausgeschlossen, dass ich es schaffen würde.
Etwa einen halben Block vor mir erstreckte sich zwischen zwei Gebäuden eine schmale Gasse. Mit einer Kraftanstrengung raste ich hinein und drang so tief in sie vor, wie ich nur konnte, bevor mich der wachsende Druck des Sonnenaufgangs zwang, stehen zu bleiben und gegen die Mauer zu taumeln. Ich konnte spüren, wie sich die Strahlen der Sonne über der Stadt ausbreiteten und all die kleinen Trugbanne und geringen Zauber der Nacht zerfetzten. Dann erreichte das Licht die Gasse, verwandelte mein Taumeln in einen Zusammenbruch, und ich hörte auf, an etwas Komplizierteres als den nächsten Atemzug zu denken.
Daran, wie sich der Sonnenaufgang auf Fae auswirkt, ist nichts Freundliches. Um es noch unfairer zu gestalten, ist es für Wechselbälger härter als für Reinblütler, weil wir über weniger Verteidigungsmöglichkeiten verfügen. Das Licht brannte zwar nicht ganz, aber fast. Es erfüllte die Luft rings um mich mit dem aschigen Makel sterbender Magie. Ich ließ die Augen geschlossen und zwang mich, langsam und gemessen zu atmen, während ich die Augenblicke zwischen dem Sonnenaufgang und dem Tag runterzählte.
Als der Druck so weit nachließ, dass ich mich wieder bewegen konnte, richtete ich mich auf, holte zittrig Luft und ging tiefer in die Gasse hinein. Die Nachwehen des Sonnenaufgangs halten fünf, höchstens zehn Minuten an, aber die
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