Odessa Star: Roman (German Edition)
Medienspektakel wird Max G.s Beisetzung auf jeden Fall.
In den Sechs-Uhr-Nachrichten hat man sich heute noch ausführlich über die Route des Trauerzugs verbreitet und über die umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen. Und zum x-ten Mal in den vergangenen drei Tagen wurden die Bilder gezeigt. Die dunkle Straße und die Blaulichter an der Ecke beim italienischen Restaurant Mare Nostrum und dann die rot-weißen Absperrbänder um den Tatort. Und zum Schluss noch einmal das halb heruntergelassene Seitenfenster des silbergrauen Mercedes Cabrio, Max’ Kopf auf dem Steuer – als schliefe er. Polizisten mit Gummihandschuhen heben Patronenhülsen vom Bürgersteig auf und lassen sie mit größter Behutsamkeit in Plastikbeutel gleiten, die sie anschließend versiegeln; die Fundstellen auf dem Bürgersteig sind mit weißer Kreide umzirkelt.
Ich versuche mir vorzustellen, welche Wirkung die Geschichte vom Kater neben all den anderen Reden wohl auf die Zuhörer hätte. Ich könnte sie so erzählen, dass erst Tränen fließen und dann ein großes Gelächter angestimmt wird. Ich denke an Max’ kleine Tochter, die sie wahrscheinlich zum ersten Mal hört. »Wir sind damals noch in die Schule gegangen«, könnte ich sagen. Oder: »Das ist alles schon so lange her.« Auch der Kater ist vermutlich schon seit fünfundzwanzig Jahren tot. Andererseits ist das Ganze doch anders. Anders als andere Beerdigungen, meine ich.
So weiß ich zum Beispiel nicht, ob ich morgen Abend noch am Leben bin. In den vergangenen Tagen habe ich mich auf der Straße öfter als sonst nach allen Seiten umgeblickt. Wenn ich durch die Stadt fuhr, bildete ich mir ein, im Rückspiegel mehr als einmal dasselbe Auto an meiner Stoßstange kleben zu sehen. Und heute Abend, als ich die Müllsäcke an den Straßenrand stellte, bin ich doch wahrhaftig fast unter mein Auto gekrochen, aber es war zu dunkel, um etwas sehen zu können. Ich musste daran denken, wie ich als Kind jeden Abend vorm Schlafengehen unter mein Bett schaute, ob sich da nicht ein Monster versteckt hatte.
Es ist jetzt fast Mitternacht. Ich stehe im Garten und horche auf die Geräusche der Züge auf dem ein paar Häuserblocks entfernten Rangierbahnhof. Vor einer halben Stunde habe ich bei meiner Frau und meinem Sohn reingeschaut, sie schliefen beide fest. Es gab mal eine Zeit, da glaubte ich, ohne mich würde es für sie keine Zukunft geben; nach meinem Tod würden sie in einen freien Fall geraten wie Passagiere eines Flugzeugs, dessen Pilot sich per Schleudersitz in Sicherheit gebracht hat. Mit einem Wort, ich war überzeugtvon meiner Unentbehrlichkeit. Und wer sich für unentbehrlich hält, zweifelt nicht an seiner Existenz. Zumindest nicht jeden Tag.
Aber im Sommer vor zwei Jahren am Strand von Menorca merkte ich, dass meine Frau mich von ihrem Liegestuhl aus anstarrte. Sie trug zwar eine Sonnenbrille, aber vielleicht gerade deswegen. Und als ich sie fragte, woran sie denke, antwortete sie ohne zu zögern: »Ich habe daran gedacht, was ich tue, wenn du tot bist.« Sie sagte es in einem Ton, als würde sie von einem Kleid reden, das ihr nicht mehr passt und das sie demnächst einer Kleidersammlung mitgeben wird.
Und während ich an der Schlafzimmertür auf die leisen Atemzüge meines Sohnes horchte, musste ich an die Zeit denken, als mich sein Atmen noch in Panik versetzen konnte. Wie ich an seiner Wiege angestrengt lauschte und erst beruhigt war, wenn ich die Hand unter seine Bettdecke steckte und spürte, wie sich der kleine Brustkorb hob und senkte.
Und ich dachte an die Jahre, als sich mein Sohn noch zu freuen schien, wenn ich heimkam. Wie er aus seinem Zimmer über den Flur auf mich zurannte, wenn er den Schlüssel im Schloss hörte. Und ich ihn dann mit ausgestreckten Armen hoch über meinen Kopf stemmte, und er mir mit seinen kleinen Fäusten auf die Stirn trommelte und »Lass mich runter, Papa! Lass mich wieder runter!« rief.
Gegenwärtig fängt er schon an zu stöhnen, bevor ich ausgeredet habe, und wenn seine Freunde dabei sind, schüttelt er die ganze Zeit mitleidig den Kopf, als wäre ich ein hoffnungsloser Fall, den man von seinem Leiden erlösen muss. Vielleicht denkt er nach meinem Tod noch ein paar Tage an mich. Vielleicht ist er sogar wirklich traurig, aber lange wird das nicht anhalten. Wenn ich an meinen eigenen Kummer über den Tod meiner Eltern denke, mache ich mir da keineIllusionen. Die Atemzüge meines fünfzehnjährigen Sohnes aus dem dunklen Schlafzimmer klangen wie die
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