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Odessa Star: Roman (German Edition)

Odessa Star: Roman (German Edition)

Titel: Odessa Star: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herman Koch
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seines weißen Hemds, während er seine Hände hin und her drehte; er schüttelte die Tropfen ab und warf einen Blick auf den Papierspender an der Wand, der aber, solange ich mich erinnern konnte, noch nie Papierhandtücher enthalten hatte. Max schüttelte mitleidig den Kopf. »Das Schulgeld verschwindet in einem Fass ohne Boden.«
    Später am Nachmittag setzte er sich neben mich. Wir gingen damals noch nicht in dieselbe Klasse, aber auf dem Erasmus-Gymnasium gab es sogenannte Wahlstunden, in denen jeder selbstständig in einem Klassenzimmer unter Aufsicht eines Lehrers arbeitete. Es war üblich, dass man sich einen Lehrer auswählte, der einem bei Fragen helfen konnte, mit denen man gerade beschäftigt war. An dem Nachmittag saßich bei Biervoort ganz hinten am letzten Tisch. Der Form halber hatte ich eine französische Grammatik aufgeschlagen, aber eigentlich saß ich dort, weil ich mal in Ruhe nachdenken wollte. Biervoort trug eine Brille mit dicken Gläsern, die das Licht der Neonlampen an der Decke so stark reflektierten, dass man fast nie seine Augen sah. Er war außerdem ein leidenschaftlicher Nägelkauer. Manchmal hörte man in der Stille während einer Klassenarbeit, wie er sich fast die Zähne an seinen Nägeln ausbiss, hartnäckig wie eine Maus, die sich einen Weg durch eine Fußleiste sucht. Weil Biervoort aber fast keine Nägel mehr hatte, ähnelte das Geräusch mehr einem Nuckeln. Nicht selten hörte man, wie seine Zähne sozusagen auf den Nägeln ausrutschten und sich in die feuchte Fingerkuppe gruben. Wenn er schließlich die Klassenarbeit einsammelte, vermieden wir es, auf seine Hände zu starren, aber manchmal konnten wir der Versuchung einfach nicht widerstehen.
    Es war die gleiche Faszination, wie sie auch von einer offenen Wunde ausgeht, oder ganz allgemein von etwas, was man nicht sehen darf – als wären die feuchten Finger mit ihren nackten, nicht von Nägeln bedeckten Kuppen, die die Klassenarbeit vom Tisch hoben, Körperteile, die ein normaler Mensch nur nach dem Ausknipsen der Nachttischlampe hervorholt.
    Max gab einen tiefen Seufzer von sich. Ich hatte zumindest noch ein Buch vor mir liegen, aber auf seinem Tisch lag gar nichts. »Das sind die schlimmsten Stunden«, sagte er. »Die, in denen überhaupt nichts passiert.«
    Ich schwieg. Biervoort ließ kurz seinen Blick durch das fast leere Klassenzimmer wandern; nur am Fenster saßen noch zwei mir unbekannte Mädchen über ihre Bücher gebeugt. Zeige-und Mittelfinger des Französischlehrers befanden sich zwischen seinen Zähnen. Mit der freien rechten Hand notierte er sich etwas in ein Heft.

    »Wenn sie mich nerven, stelle ich sie mir immer auf dem Klo vor«, sagte Max und nickte mit dem Kopf Richtung Biervoort. »Wie sie die Hose auf die Knöchel sinken lassen und dann in aller Ausführlichkeit kacken.«
    Biervoort hob den Kopf wie ein Hund, der die Ohren spitzt, und schrieb dann weiter.
    »Hast du die Finger von dem Kerl gesehen?« Und ohne eine Antwort abzuwarten: »Er hat sie schon wieder im Mund, dabei ist von den Nägeln gar nichts mehr übrig. Ich stelle mir vor, wie er auf dem Klo ordentlich presst und dann entdeckt, dass das Klopapier alle ist. Nichts außer einem Waschbecken und einem Wasserhahn. Und dann guckt er auf seine abgekauten Fingernägel …«
    Er lachte stoßweise. Ich warf ihm einen Blick zu und konnte mich dann auch nicht mehr beherrschen. Schließlich lachte ich noch lauter und länger als er. Biervoort schaute auf und fragte, was so komisch sei.
    »Nichts«, sagte Max.
    Da sich das Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinfiel, in Biervoorts Brillengläsern spiegelte, war schwer auszumachen, ob er uns ansah. Wir warteten ab, ob er noch was sagen würde, aber nach einiger Zeit beugte er sich wieder über sein Heft.
    »Hast du seine Frau schon mal gesehen?«, fragte Max.
    »Seine Frau?«
    Max holte seinen Tabak zum Vorschein und fingerte nach den Blättchen. »Sie arbeitet hier in der Schulbibliothek. Die mit dem kurzen grauen Maushaar.«
    Ich kam nie in die Schulbibliothek. In der Schulbibliothek konnte man sich nur die schrecklichsten Bücher ausleihen, die niemand, der bei Verstand war, freiwillig lesen würde. Aber ich sah jetzt die Gestalt einer kleinen, runden Frau vor mir, die dienstags und donnerstags zur Bibliothek watschelte; da saß sie dann den ganzen Tag an einem Tischbei der Tür, einen Zettelkasten vor sich. Aber es kam nie jemand, der sich ein Buch ausleihen wollte, jedenfalls hatte ich noch nie

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