Odessa Star: Roman (German Edition)
Wand des Flurs landete. Meistens ging das gut. Manchmal aber auch nicht. Mit einem gewissen Stolz zeigte Max mir die Kratzer auf dem Unterarm oder den Händen, wenn er das Gesicht vor den scharfen Krallen hatte schützen müssen.
An einem Samstagabend war es einmal so spät geworden, dass ich bei Max übernachtete. Er legte mir eine Matratze ins Wohnzimmer. Ich weiß nicht mehr, was in mich gefahren war, aber nachdem Max ins Bett gegangen war, kam ich auf die Schnapsidee, das Spiel mit dem Kater auch mal auszuprobieren – damals hatte er sich durch meine regelmäßigen Besuche schon einigermaßen an mich gewöhnt.
Beim ersten Mal ging alles gut. Er fixierte mich genauso, wie er das bei Max immer tat. Seinen Flug an meinem Kopf vorbei nahm ich nur sehr schemenhaft wahr. Ich kann nicht leugnen, dass mir die Nähe der scharfen Krallen und des knurrenden Mauls einen ziemlichen Adrenalinstoß versetzte. Neu war die Erfahrung einer Art unsichtbarer Luftverschiebung, als wäre die Atmosphäre für den Bruchteil einer Sekunde mit Elektrizität erfüllt und würde dann leer gesaugt. Die Härchen auf meiner Wange stellten sich auf und knisterten, als der Kater gegen die Wand krachte.
Und wie beim ersten Schnaps und bei der ersten Frau, verlangte auch dieses Erlebnis sofort nach Wiederholung. Beim zweiten Mal glaubte ich, den Kater überlisten zu können, indem ich den Kopf in zeitlich unregelmäßigen Abständen um die Ecke steckte. Aber das schien ihn nicht sonderlich zu irritieren. Ich spürte die Kralle über meiner linken Augenbraue, sie blieb kurz hängen und riss dann etwas mit sich. Ich fasste mir an die Stirn und sah Blut an meinen Fingern. Der Kater hatte inzwischen schon wieder seinen Platz im Wohnzimmer eingenommen. Sein dicker schwarzer Schwanz peitschte den Boden, seine leuchtenden grünen Augen schauten mich erwartungsvoll an.
Jetzt aufzuhören, würde er mir als Zeichen der Schwäche auslegen; wer weiß, wozu er fähig war, wenn er Angst witterte. Max’ Zimmer lag am anderen Ende des Flurs. Ich sah mich schon mit dem Raubtier im Nacken am Fußende seines Bettes zusammenbrechen. Aber wahrscheinlich würde ich sein Zimmer gar nicht mehr erreichen.
Ich beschloss, mich so normal wie möglich zu verhalten. Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und stellte mich,als wäre alles tatsächlich so normal, wie es von außen aussah, wieder hinter den Türpfosten. Ich pfiff sogar leise vor mich hin. Wir spielten eben einfach ein Spiel, der Kater und ich; kein Grund zur Aufregung. Wenn er das auch kapierte, war alles in bester Ordnung.
Nachdem es mir bei seinen nächsten fünf Sprüngen gelang, einigermaßen außerhalb des Bereichs seiner Krallen zu bleiben, schlenderte ich, die Hände in den Hosentaschen und vor mich hin pfeifend, ins Wohnzimmer. »So«, sagte ich in vergnügtem Ton, »das wär’s für heute.«
Ich wusste nicht so recht, zu wem ich das sagte. Genauso wenig hatte ich eine deutliche Vorstellung davon, was ich jetzt tun sollte. Pfeifend rückte ich die Kissen zurecht, zog ein wenig an der Matratze und schob sie mit dem Fuß wieder zurück an die Wand.
Der Kater ließ mich keinen Moment aus den Augen. Nach einer Weile gab er seinen Stammplatz bei der Tür auf und sprang auf den Stuhl neben der Matratze, auf den ich meine Kleider legen wollte. Er schlug noch immer mit dem Schwanz, aber weniger kräftig als während unseres Spiels, redete ich mir ein.
Ich zog mir den Pulli über den Kopf, der Kater drehte sich ein paarmal auf dem Stuhl im Kreis und machte es sich dann bequem. Die Vorderpfoten hatte er unter sich vergraben, der Schwanz hing friedlich an einem Stuhlbein herab; er verengte die Augen zu Schlitzen, und es war, als würde er lächeln.
»Wie lustig wir gespielt haben, nicht?«, sagte ich. »Aber jetzt sind wir beide ganz schön müde.« Beim Klang meiner Stimme spitzte er die Ohren und schlug einmal kräftig mit dem Schwanz gegen das Stuhlbein. Doch dann döste er wieder ein, seine Augen schlossen sich.
Ich nahm mir ein Buch aus dem Regal und schlüpfte unter die Decke. Ich weiß nicht mehr, was für ein Buch es war –ich habe kein Wort darin gelesen. Ich erinnere mich noch, dass das Licht der Leselampe, die mir Max hingestellt hatte, den Schatten eines Menschen an die Wand warf, der so tut, als würde er völlig entspannt in einem Bett auf dem Fußboden liegen und ein Buch lesen.
Ich hörte nicht, wie der Kater vom Stuhl sprang. Ich nahm ihn erst wahr, als er an meinem Fußende
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