Odins Insel
es ja nicht so einfach wie in den alten Tagen, Konflikte zwischen zwei Ländern zu lösen«, fuhr die Königin ungerührt fort. »Damals, als Könige und Königinnen einen Friedensvertrag unterzeichnen konnten, in dem sie sich ohne die Einmischung der Regierung, des Parlaments oder des Volks einigen konnten, war es leichter.«
»Ja, aber in den alten Zeiten bestimmten Könige und Königinnen über Krieg und Frieden gleichermaßen«, bemerkte der nordnordische König trocken.
Die Königin lachte und missverstand absichtlich die Worte des Königs.
»Ich bin so froh, dass Ihre Majestät die feindlichen Gefühle nicht teilen, die gewisse Landsleute von Ihnen im Moment für meine Landsleute zu nähren scheinen«, lachte sie sanft.
»Vice versa, vice versa«, sagte der König mit einem ganz kleinen Anzeichen von Freundlichkeit in der Stimme.
Die Königin machte sich das sofort zu Nutze.
»Ja, am Weihnachtsabend sollten nicht nur Familien und Freunde zusammenkommen, auch Feinde sollten zusammenkommen und Brücken über ihre Konflikte bauen.« Die Königin sprach so mild und einschmeichelnd, wie sie konnte. »Deshalb habe ich genau diesen Abend gewählt, diese Stunde, um Sie, Ihre Majestät,
anzurufen, um mit Ihnen meine Sorge über den Konflikt zwischen unseren Ländern und insbesondere die Sorge über die Feindlichkeit, zu der es gekommen ist, zu teilen, ganz zu schweigen davon, was in den allernächsten Tagen passieren wird, wenn niemand eingreift.« Die Königin machte eine Pause, doch als der König schwieg, fuhr sie fort: »Ich bin überzeugt, dass Ihre Majestät genauso wenig wie ich wünschen, dass es zu einem bewaffneten Konflikt zwischen Südnorden und Nordnorden kommt?«
Der nordnordische König murmelte etwas, das sowohl ja als auch nein bedeuten konnte, aber die südnordische Königin hatte keine Zweifel, für welche Interpretation sie sich entscheiden wollte.
»Ich bin Ihnen äußerst dankbar, Ihre Majestät, dass Sie mit mir einig sind«, sagte sie einfach. »Die Insel, von der wir sprechen, und um es zu keinen Missverständnissen kommen zu lassen, nennen wir sie einfach die Insel, von der Herr Odin Odin gekommen ist, ist klein und unzugänglich und gänzlich unbedeutend für das Wohlergehen unserer Länder.«
»Ja …«, der König wurde wieder vorsichtig, aber die Königin hatte gerade erst begonnen.
»Deshalb wäre es nur umso trauriger, wenn unsere beiden Länder nicht nur ihre gute Nachbarschaft, sondern auch das gegenseitige Wohlergehen auf Grund dieser kleinen Insel gefährden würden.«
»Und was schlagen Ihre Majestät vor?«, fragte der König und versteckte seine Neugier hinter einem leichten Sarkasmus.
»Ich habe einen Vorschlag, der Ihre Majestät und mich sofort in Stand setzen würde, dem Konflikt ein Ende zu bereiten«, sagte die Königin, ohne Notiz von dem Sarkasmus des Königs zu nehmen.
»Wie wir beide wissen«, sagte der König nachsichtig, »kann dieser Konflikt nicht beendet werden, weil unsere Völker ihn nicht beenden wollen. Selbst wenn Sie, Ihre Majestät, und ich uns auf eine Lösung einigen würden, selbst wenn wir im Stande wären, unsere beiden Regierungen davon zu überzeugen, den Konflikt zu beenden, würde das nichts nutzen, da wir eine Volksabstimmung zu der Frage nicht gewinnen würden.«
»Wie wahr, wie wahr.« Die Königin versuchte die Arroganz des Königs nicht zu erwidern. »Man würde die Frage jedoch nicht zur Volksabstimmung vorlegen müssen, wenn eine alte Absprache zwischen unseren Ländern existieren würde, in der beide Länder das Recht auf die Insel für alle Zeiten aufgeben. Eine Absprache, die nie anulliert oder umgestoßen worden ist und deshalb noch immer als gültig angesehen werden muss.«
»Wollen Ihre Majestät mir erzählen, dass …« Der König klang endlich aufrichtig interessiert.
»Ja, so ist es. Vor mir liegt ein Dokument, eine am Weihnachtstag des Jahres 1618 von König Enevold IV. von Südnorden und König Hermod Skjalm von Nordnorden unterschriebene Absprache. Und die Absprache lautet:
Die namelose Insul, hinter den Clippen bevindlich in der Meeresenge, sutlich von Urö, enzwischen Nortnordern und Sutnordern, wird von Stund an als Niemenslant erachtet. Infolge dieses Briefes soll für alle Zeiten die Insul weder dem sutnordisch noch dem nortnordisch Königreiche zugehören, noch einem andern König oder einem andern Reich auf jener Erden. Von Stund an soll es Fremden verboten sein, ihren Fuss auf die Insul zu setzen,
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