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Odins Insel

Odins Insel

Titel: Odins Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janne Teller
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beugte sich hinunter, hob den eingefallenen Mann hoch und schleppte ihn zur Bank neben dem abgenutzten Mahagonitisch. Er war furchtbar zugerichtet. Die rechte Seite seines Gesichts war eine große blutige Wunde, sein rechtes Augenlid war so geschwollen, dass das Auge ganz geschlossen war, die Oberlippe war gespalten, und die ganze rechte Seite seines Mantels war aufgerissen und mit mehr oder weniger getrocknetem Blut beschmiert.
    »Ich rufe sofort einen Krankenwagen«, sagte Sigbrit Holland und wollte hinauslaufen, um ein Telefon zu suchen.
    Aber der Fremdling schüttelte schwach den Kopf.
    »Dazu besteht kein Grund mehr«, flüsterte er mit einem merkwürdig
glücklichen Lächeln um seinen verletzten Mund, und Sigbrit Holland wusste, dass sie nicht darauf beharren sollte. Stattdessen holte sie ein Kissen aus der Koje und legte es unter den Kopf des alten Mannes. Dann schnitt sie so viel von seinem Mantel weg, wie sie konnte, ohne ihn zu bewegen, und zog ihm vorsichtig die Stiefel aus. Sie goss eine Tasse Tee ein und gab einen kräftigen Schuss Whisky und etwas Honig hinein und versuchte ihm die Flüssigkeit mit einem Löffel einzuflößen. Nachdem sie einige Mund voll in den alten Mann hineingezwungen hatte, deckte sie ihn mit einer Decke zu und ließ ihn ausruhen.
    Es vergingen einige Minuten, dann öffnete der Fremdling plötzlich die Augen, das heißt das linke Auge, das er noch öffnen konnte, und setzte sich langsam auf. Er winkte den Tee weg, den Sigbrit Holland zu ihm hinschob. Sein Gesicht war bläulich wie das eines toten Mannes, aber zum ersten Mal kam es Sigbrit Holland lebendig vor; ein bisher unbekannter Friede schien in jedem der gefurchten Züge zu liegen.
    Sie wartete lange, doch da er nichts sagte, fragte sie schließlich mit einem Nicken zu seinen Wunden hin: »Wer hat das getan?«
    »Ich habe das getan«, flüsterte der Fremdling. Die Worte kamen langsam und vorsichtig durch die gesprungene Lippe, aber es bestand kein Zweifel an dem Stolz in der Stimme. »Sie hätten euch beinahe erwischt«, fuhr er fort.
    Plötzlich fiel Sigbrit Holland die Explosion bei der Schiffshalle und der Warnruf ein, der, unmittelbar bevor sie losgesegelt waren, ertönt war.
    »Dann haben Sie sie aufgehalten?«
    »Es gibt keinen Weg darum herum. Vergessen Sie das nie«, flüsterte der Fremdling, ohne zu antworten. »Du musst immer handeln. Immer.« Er drehte vorsichtig den Kopf und sah aus dem Fenster in die Finsternis der Nacht und auf die Straßenbeleuchtung, dann blickte er zu den Stearinlampen im Steuerhaus, bevor er wieder Sigbrit Hollands Blick traf. »Weihnachtsabend!«, sagte er mit plötzlicher Heftigkeit spöttisch. »Weihnachtsabend. Was bedeutet das? Vielleicht nichts, vielleicht alles. Ich weiß es nicht. Aber ich habe sie aufgehalten.« Wieder lächelte der Fremdling glücklich.

    »Aber Sie sind ernsthaft verletzt worden«, sagte Sigbrit Holland bekümmert und wollte gerade wieder vorschlagen, einen Krankenwagen zu rufen. Aber der Fremdling unterbrach sie. »Dereinst wusste ich das nicht«, sagte er mit zischendem Atem. »Erst später habe ich verstanden, dass man immer verantwortlich ist. Es gibt keine Wahl.« Seine Stimme wurde immer schwächer, aber er sprach zusammenhängend und fast ohne Pausen. »Du musst für die Prinzipien kämpfen, nicht für dich selbst. Du musst für die Rechte der anderen kämpfen, nicht für die deinen.« Ein kleiner Streifen Blut lief von dem rechten Mundwinkel des Fremdlings über sein Kinn.
    Sigbrit Holland stand auf und holte Papier, um das Blut abzutrocknen. Aber der Fremdling schnippte ihre Hand weg, und sie setzte sich wieder.
    »Wenn du nicht kämpfst, machst du dich schuldig«, flüsterte er mit plötzlicher Sorge in der Stimme. »Das war es, was ich nicht rechtzeitig eingesehen habe.« Das Gesicht des Fremdlings verzog sich, als würde er von einem heftigen Schmerz überwältigt, aber es war deutlich, dass er nicht von seiner blutenden Wunde kam. Als er wieder zu sprechen begann, war seine Stimme so schwach, dass Sigbrit Holland sich vorbeugen musste, um zu hören, was er sagte. »Ich war zu sehr mit meinem eigenen Überleben, mit dem Überleben meiner Familie beschäftigt, um einzusehen, dass es noch etwas anderes gab, etwas Größeres. So habe ich trotzdem alles verloren.« Der Fremdling hielt inne und atmete stoßweise.
    Sigbrit Holland wartete, und nach einigen Minuten, in denen der Fremdling auf eine einsame Reise durch seine Erinnerungen gegangen zu sein schien,

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