Odins Insel
nicht
unliebenswürdig sein wolle, aber dass es an der Zeit sei, dass der lang erwartete und dringend benötigte Veterinär sich das unglückselige Bein von Herrn Odins Pferd ansehe. Harald Adelstensfostre schob sich durch die Dorfbewohner nach vorn. Obwohl das Bein in einem dicken Verband steckte, der vom Huf bis zum Körper des Pferdes reichte, stand es fest auf dem Boden und trug offensichtlich nicht weniger als ein Viertel von Rigmaroles Gewicht.
Der Veterinär Adelstensfostre klopfte dem Pferd den Hals, hockte sich hin und begann den Verband abzunehmen. Ganz still wurde es in Mutter Maries Stall. Alle Dorfbewohner folgten gespannt den Händen des Veterinärs und die, die am nächsten standen, beugten sich vor, während die, die zuhinterst standen, sich auf die Zehenspitzen stellten und den Hals reckten, um besser sehen zu können. Außer dem ruhigen Kauen der Pferde war im Stall kein Laut zu hören. Der Verband wurde langsam immer weniger, während das Stück mit gelbem Fell wuchs, bis das ganze Bein freigelegt war. Ein erleichtertes Seufzen der Dorfbewohner ging wie eine leichte Brise durch den Stall; weder Narben noch andere Missbildungen waren zu sehen. Veterinär Adelstensfostre ließ nun seine Hand am Bein des Pferdes entlanggleiten, aber er spürte nur gesunde Knochen, keine Verknorpelungen, keine Risse, nicht die geringste Unebenheit. Er richtete sich auf und sah Odin an und dann den Schmied und alle Dorfbewohner und die Kinder und den noch nicht vorgestellten Ambrosius.
»So gut wie neu«, sagte er kurz und bat das Pferd, laufen zu sehen, um sich zu vergewissern, dass es keine inneren Schäden gab, die weder Auge noch Hand erspüren konnten.
Aber Rigmarole trabte mit dem jungen Fohlen im Gefolge durch den Schnee, als hätte sie nie etwas anderes getan. Ihre vier starken Beine bewegten sich mit gleich großem Vergnügen, und es war schon ein Glück, dass für die Pferde nichts mehr getan werden musste, denn in diesem Moment kam der kleine Ingolf in rasender Geschwindigkeit über den Hofplatz gelaufen.
»Die alte Rikke-Marie ist verschwunden!«, rief er atemlos und blieb stolpernd vor dem Schmied stehen. »Die alte Rikke-Marie
ist verschwunden. Ich habe überall gesucht, aber sie ist nirgendwo, nicht im Schaukelstuhl, nicht auf dem roten Sofa und nicht in ihrem Bett«, schnaufte Ingolf mit rotem Kopf. »Die alte Rikke-Marie ist verschwunden!«
»Die alte Rikke-Marie ist verschwunden!«, echote es von den Dorfbewohnern. »Die alte Rikke-Marie ist verschwunden!«
Der Schmied nahm die Pfeife aus dem Mund, steckte sie dann wieder hinein und wiederholte diesen Vorgang mehrere Male, bevor er etwas sagte.
»Hm, hm«, räusperte er sich. »Hm, hm. Ich will nicht unliebenswürdig sein, aber, kleiner Ingolf, bist du ganz und vollkommen sicher? Ich meine, vielleicht hast du die alte Rikke-Marie nicht gesehen, weil es drinnen so dunkel war?«
Der kleine Ingolf schüttelte bestimmt den Kopf, aber der Schmied meinte trotzdem, dass es das Beste sei, wenn er selbst hinging und nachsah.
Der Schmied und alle Einwohner Smediebys mit ihm, Kinder und Erwachsene, Odin, der Veterinär Adelstensfostre und der dritte noch unbekannte Mann gingen hinaus, um nach der alten Rikke-Marie zu suchen.
Zuerst sahen sie im Haus nach, in dem die alte Rikke-Marie ihr ganzes Leben und solange sich jemand erinnern konnte mit ihrem Sohn gelebt hatte. Sie sahen im Schaukelstuhl in der Küche nach, auf dem roten Sofa im Wohnzimmer und im Alkoven im Schlafzimmer. Als sie vollkommen sicher waren, dass die alte Rikke-Marie sich nirgendwo in ihrem eigenen Haus versteckte, gingen sie von Haus zu Haus und sahen in alle Zimmer und Ecken und fragten Erwachsene und Kinder und einander gegenseitig immer wieder, ob jemand die alte Rikke-Marie gesehen hatte. Aber nirgendwo fanden sie sie, und niemand hatte sie gesehen, seit sie alle vom Dorf aus den Weg hinuntergegangen waren, um selbst das Merkwürdige zu betrachten, das sich auf dem Eis des Sees ereignet hatte, und wo sie ihren Freund vom Kontinent und den lange erwarteten und dringend benötigten Veterinär sowie den dritten noch unbekannten Mann getroffen hatten. Als die Prozession schließlich Onkel Josefs Scheune, die Schmiede des Schmieds
und Mutter Maries Stall durchsucht hatte, konnte der Schmied nicht länger übersehen, dass die Zeit gekommen war, die Suche abzubrechen.
»Hm, hm«, räusperte er sich. »Hm, hm. Ich will nicht unliebenswürdig sein, doch in diesem Augenblick und im
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