Odins Insel
ich habe den Justizminister gebeten, alle notwendigen Kräfte einzusetzen, um nach Herrn Odin Odin zu suchen. Ich bin überzeugt, dass der kleine alte Mann bald wieder im Krankenhaus sein wird und dass die Demonstranten dann einsehen werden, dass die Regierung nichts mit seinem Verschwinden zu tun hat.«
»Herr Staatsminister«, die Königin sprach langsam und deutlich. »Es sind nicht die Demonstrationen, die mir Sorgen bereiten. In diesem Punkt habe ich vollstes Vertrauen in die Bemühungen der Regierung. Nein, worüber ich gerne mit Ihnen sprechen möchte, ist die Frage nach Herrn Odins Herkunft.«
Überrascht hob der Staatsminister die Augenbrauen.
»Ich befürchte, dass diese noch immer nicht ganz aufgeklärt ist.«
Er wollte gerade den kleinen Finger nach hinten knicken, ließ es dann jedoch. »Ihre Majestät, das ist ein äußerst komplizierter Fall.«
»Das verstehe ich, aber ich habe Grund zu der Annahme, dass die Dinge erheblich einfacher sein könnten, als sie aussehen, Herr Staatsminister.«
Wenn das Land nur einen Monarchen hätte, der sich innerhalb des formellen Rahmens seiner Aufgabe bewegen würde. Der Staatsminister seufzte lautlos.
»Ihre Majestät, der Mann hat Halluzinationen, er bringt sich selbst in Gefahr, und niemand war bisher im Stande, seine Identität festzustellen.« Der Staatsminister musste sich beherrschen, um seine Ungeduld nicht zu zeigen. »Ich kann Ihrer Majestät versichern, dass die Regierung bald über alles genauestens unterrichtet sein wird.«
»Herr Staatsminister, vielleicht ist es gar nicht so kompliziert. « Die Königin lächelte entgegenkommend. »Sehen Sie, ich habe guten Grund zu der Annahme, dass der kleine alte Mann nicht ganz so verstört ist, wie die Ärzte glauben.«
Der Staatsminister hob fragend die Augenbrauen, aber die Königin nahm sich Zeit. Erst nachdem sie ein Plätzchen gegessen und von ihrem Tee getrunken hatte, fuhr sie fort. »Erlauben Sie mir, Ihnen etwas zu zeigen, über das ich kürzlich in der Bibliothek gestolpert bin, als ich nach etwas ganz anderem gesucht habe.« Ruhig reichte die Königin dem Staatsminister die vergilbte Landkarte König Enevolds IV. »Sehen Sie, ich habe nicht nur Grund zu glauben, dass die Insel, von der Herr Odin zu kommen behauptet, wirklich existiert, ich habe auch Grund zu glauben, dass es diese hier ist.«
Die Königin hatte in äußerst zuvorkommendem Ton gesprochen, aber der Staatsminister saß wie versteinert da. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, setzte sich dann wieder auf, öffnete und schloss den Mund, als wollte er etwas sagen, war aber nicht im Stande, Worte hervorzubringen. Er studierte die Karte, dann ließ er sie sinken und schüttelte den Kopf, bevor er sie wieder hob, um sie genauer zu studieren.
»Aber wie … ? Ich meine, es gibt keine Insel in der Meerenge südlich von Urö.«
»Nein, nicht so weit bekannt. Aber hier sehen Sie sie doch, Herr Staatsminister.«
»Ja, aber…« Der Staatsminister knickte den linken kleinen Finger nach hinten, beherrschte sich dann und griff stattdessen nach der Teetasse. »Aber Ihre Majestät, das, was ich sagen wollte, ist, wie kann es eine Insel in der Meerenge geben, ohne dass jemand sie kennt?«
Die Königin reichte ihm die Zeichnung.
»Die Klippen«, sagte sie freundlich. »Man kann weder zu der Insel hin- noch von ihr fortkommen. Mit Ausnahme der einen Nacht natürlich, in der die Meerenge zugefroren war und der kleine alte Mann über das Eis spaziert ist, um Hilfe für sein Pferd zu holen.«
Der Staatsminister schloss die Augen und schluckte die Spucke hinunter, die sich in seinem Mund gesammelt hatte. Er hatte den verzweifelten Drang, den kleinen Finger der rechten Hand zu knicken, aber er beherrschte sich.
»Ihre Majestät, entschuldigen Sie, aber wenn diese Karte wirklich echt ist …« Der linke Mundwinkel des Staatsministers verzog sich. »Wenn diese Karte wirklich echt ist, muss irgendwann einmal jemand von der Existenz der Insel gewusst haben. In diesem Fall müsste sie uns heute doch bekannt sein?« Er schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Wie kann es sein, dass bisher niemand eine Karte oder einen Hinweis auf die Insel gefunden hat?«
»Ja, das ist schon sonderbar«, sagte die Königin. »Denn irgendwo muss es ganz bestimmt noch eine zweite Fassung dieser Karte geben, wahrscheinlich in der Zentralbibliothek oder, wer weiß, vielleicht in den Spezialarchiven des Land- und Katasteramtes. « Die Königin nippte an ihrem Tee. »Herr
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