Odins Insel
mit einem Brief, in dem sie die Verspätung entschuldigte und erklärte, dass sie diese sonderbare Zeichnung mit dem Namen unseres Vaters in den Sachen ihres Vaters gefunden habe.« Der Fischer Ambrosius lächelte traurig. »Manchmal wünschen wir uns, sie hätte sie behalten.« Er strich sich mit den Fingern durch die Haare und seufzte. Der Fremdling kicherte leise in seiner Ecke, und einen kurzen Augenblick drehte der Fischer den Kopf, dann sah er wieder Sigbrit Holland an.
»Ja, es hätte wohl nichts geändert. Aber bis wir diese Karte bekommen haben, hatten wir keine Ahnung, dass unser Großvater und unser Vater etwas ganz anderes gemacht haben, als Dorsch und Schollen zu fischen. Als wir zum ersten Mal diese Karte in der Hand hielten«, wieder schwenkte der Fischer die Plastikhülle in der Luft, »wussten wir, dass der mutige Seemann in den Geschichten unseres Großvaters niemand anderer war als er selbst. Wir wussten, dass nicht nur Zufälle und fehlendes Glück dafür verantwortlich waren, dass unser Vater und unser Großvater, erfahrene und sehr bewanderte Seeleute, ihren Tod an denselben Klippen mitten in der Meerenge fanden. Und wir wussten, dass die namenlose Insel, von der die Seeleute spät in der Nacht schwatzen, wenn ihre Frauen nicht in der Nähe sind, mehr als nur ein Mythos ist. Ich wurde zu wir, ein Erbe, das weitergeführt werden musste; wir waren unserem Schicksal begegnet.« Der Fischer nahm einen tiefen Zug aus der Pfeife und schloss fast barsch: »Nun gut, so war das, und mehr lässt sich dazu nicht sagen.«
»Trotzdem sind Sie heute hier draußen«, sagte Sigbrit Holland leise.
»Holde Frau«, der Fischer Ambrosius seufzte. »An dem Tag, an dem Sie mit Odins Geschichte aufgetaucht sind, wussten wir, dass man den Wettlauf mit dem Schicksal nicht gewinnen kann
– fragen Sie den Fremdling.« Er nickte in Richtung des eingefallenen Mannes in der Ecke. »Wir wussten auch, dass es noch einen Grund gab, warum wir die Karte bekommen hatten.« Plötzlich
erschien ein Lächeln auf dem Gesicht des Fischers. Er sah Sigbrit Holland an. »Wenigstens wissen wir nun, warum unser Großvater Gefahr, Gesetz und Gewohnheit getrotzt hat und warum er diese Grenzüberschreitung als einziges Erbe an seinen Sohn und später an seinen Enkel und an die Generationen, die später kommen mögen, weitergeben wollte.« Er wandte sich an Odin. »Um Ihre Frage von vorhin zu beantworten: Ja, wir haben Richard, den Rotblonden, getroffen. Richard, der Rotblonde, ist unser Großvater.« Odin zupfte bekümmert an seinem Bart, und eine tiefe Furche zeigte sich auf seiner gerunzelten Stirn.
»Es tut mir wirklich Leid«, sagte er so liebenswürdig, wie er konnte. Ob der Kopf des Fischers bei dem Zusammenstoß des Bootes mit der Klippe wohl ein wenig Schaden genommen hatte? »Aber das ist nicht möglich, denn Richard, der Rotblonde, ist der Vater der alten Rikke-Marie.«
Der Fischer Ambrosius brach in Gelächter aus.
»Immer mit der Ruhe«, sagte er und klopfte Odin auf den Rücken. »Richard, der Rotblonde, ist sowohl unser Großvater als auch der Vater der alten Rikke-Marie. Ja, wir sind wohl der Neffe der alten Rikke-Marie.«
Odin dachte lange über diese Übereinstimmung nach.
»Die Bande des Blutes sind unergründlich und doch immer zu erkennen«, sagte er schließlich.
»Ich glaube nicht an das Schicksal«, sagte Sigbrit Holland leise.
»Dann nennen Sie es anders. Es kommt alles auf das Gleiche hinaus: Gene, Erbe, Umstände, Möglichkeiten, Berufung, Zufall, ja sogar Glück.«
»Es gibt kein Unglück, dem ein wenig Glück nicht abhelfen kann«, sagte Odin und nickte vor sich hin. »Aber ob eine Unheilsbotschaft, die nicht ausgesprochen wird, trotzdem eine Unheilsbotschaft bleibt?«
Einen kurzen Moment war es still im Steuerhaus, dann sagte Sigbrit Holland: »Es gibt kein vorherbestimmtes Schicksal.«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ob es nun die Nornen sind, die den Weg gesponnen haben oder nicht, es gibt eine vorherbestimmte Spur.«
»Dann gibt es nichts, das der eigenen Verantwortung unterliegt? «
»Die Spur ist da. Ob man ihr folgt oder nicht, ist eine andere Sache.«
»Abgesehen von ein paar Umständen wie Umwelt, Zeit und physischem Erbe liegt wohl alles an einem selbst und dem Zufall? «
»So sieht es aus, aber so ist es nicht. Oder vielleicht besser: So ist es in keinem Fall, aber dabei sollte man es nicht belassen.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Sigbrit Holland und trommelte leicht mit den
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