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Odins Insel

Odins Insel

Titel: Odins Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janne Teller
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»Vielleicht wäre die Welt deshalb nicht schlechter.«

    Wären sie nicht an Bord eines grün-orangenen Fischerbootes gewesen, das unter einem sich über ihnen leer gießenden Himmel in einer tobenden See gegen eine riesige Klippe gelaufen war, nicht weit entfernt von einer Insel, von deren Existenz niemand wusste, und wären sie nicht in Gesellschaft eines alten Mannes mit nur einem Auge, eines riesigen Mannes, der seinen illusorischen Riesenkopf unter dem Arm trug, und eines eingefallenen Schattens, der nie ein Wort sagte, gewesen, hätte Sigbrit Holland dem Fischer Ambrosius die Bedeutung der jeweiligen Konvertibilität der ausländischen Währungen, der Nachfrage- und Angebotskurven, der makroökonomischen Schwankungen und komparativen Vorteile erklärt. Tatsache war jedoch, dass sie in einem grün-orangenen Fischerboot in einer etwas gemischten Gesellschaft gestrandet waren und dass diese Erklärungen ihr plötzlich absurd vorkamen.
    »Sie haben mir nie erzählt, warum Sie nicht mehr fischen?«, sagte sie stattdessen.
    »Nein, das ist richtig, das haben wir nie.«
    »Und?«
    »Holde Frau, haben Sie Geduld!« Der Fischer klang irritiert, und Sigbrit Holland drängte ihn nicht weiter.
    Odin sah von einem zum anderen. Er verstand die Angewohnheit, unliebenswürdig zu sein, wenn kein Grund dazu bestand, die manche Menschen auf dem Kontinent hatten, nicht ganz. Andererseits konnte er jedoch nicht wissen, wann die Menschen vom Kontinent Grund hatten, unliebenswürdig zu sein und wann nicht, deshalb murmelte er nur vor sich hin: »Ich hoffe wahrlich, dass Veterinär Martinussen einen besseren Weg nach Smedieby gefunden hat als diesen.«
    »Immer mit der Ruhe!«, riefen Sigbrit Holland und der Fischer Ambrosius wie aus einem Mund, und der Fischer fuhr fort: »Wir müssen nur nach Fredenshvile zurück, um die Rikke-Marie zu reparieren, dann versuchen wir es noch einmal. Wie Sie sehen, ist es nicht so leicht, den Seeweg zu finden, den Richard, der Rotblonde, gefunden hat. Aber früher oder später wird es uns gelingen.«
    Der Fischer Ambrosius zog an seiner Pfeife, dann räusperte er
sich und begann mit leiser, flüsternder Stimme zu sprechen. Sigbrit Holland musste sich über den Tisch lehnen, um zu hören, was er sagte.
    »Die kurze Version ist die, dass die Regierung auf Grund der Überfischung die Fischer dafür bezahlt, nicht zu fischen, und zu einem gewissen Zeitpunkt haben wir erkannt, dass wir mehr verdienen, wenn wir nicht fischen als wenn wir fischen, also haben wir aufgehört«, sagte der Fischer.
    War das alles? Sigbrit Holland stand auf und räumte die Tassen vom Tisch.
    »Haben Sie Geduld, holde Frau«, sagte der Fischer Ambrosius, diesmal mit einem freundlichen Lächeln.
    Sigbrit Holland setzte sich wieder.
    »Manche Menschen nennen es Los, andere nennen es Schicksal, wieder andere meinen, dass die Nornen den Weg gesponnen haben. Wie auch immer, jeder hat seins. Und wir haben herausgefunden, wie unser Schicksal aussieht, das ist passiert. Deshalb haben wir aufgehört zu fischen. Das ist jetzt etwas länger als zwei Jahre her.« Der Fischer Ambrosius kaute auf dem Mundstück seiner Pfeife und sah eine Zeit lang aus dem Fenster, bevor er fortfuhr: »Als unser Großvater starb, waren wir noch ein Junge. Aber wir erinnern uns genau an die Geschichten, die er von einer merkwürdigen unbekannten Insel in gefährlichen Gewässern erzählt hat, die ein einziger mutiger Seemann unter Einsatz seines Lebens zu erreichen versuchte. Nun gut, unser Großvater ist ertrunken, und alles, was er uns hinterlassen hat, waren seine Geschichten. Jedenfalls glaubten wir, dass das alles war, was er uns hinterlassen hatte. Aber nach dem Tod unseres Vaters fanden wir heraus, dass unser Großvater uns auch diese kleine Karte hinterlassen hat.« Der Fischer Ambrosius holte die kleine Plastikhülle mit dem vergilbten Papier hervor und sah sie mit einer Mischung aus Furcht und Ehrfurcht an. »Manche würden es einen Fluch nennen, andere eine Segnung. Wie auch immer, es ist unser Schicksal. « Er schwenkte die Hülle zwischen den Fingern hin und her.
    Es war still im Steuerhaus. Dann fragte Sigbrit Holland: »Aber haben Sie nicht gesagt, dass Ihr Vater vor vielen Jahren gestorben ist?«

    »Er ist vor vielen Jahren gestorben. Aber der Fischer, der ihn in seinem Netz aufgesammelt hat, hat uns nie erzählt, was er an einer Schnur um den Hals unseres Vaters gefunden hat. Erst als er selber tot war, schickte uns seine Tochter diese Karte

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