Öffne deine Seele (German Edition)
Königstraße geführt hatten, war das im Grunde nur natürlich. Immerhin war das eine schöne Ecke.
Selbstverständlich hatte er aufgepasst, dass keiner seiner Mitarbeiter ihn zu Gesicht bekam, wenn er das schummerige kleine Café mit Blick auf das Reviergebäude betrat.
Die Kollegen sollten keinen falschen Eindruck bekommen.
Oh, und er hatte sich endlich Zeit nehmen können für die Dinge, die ihm wirklich wichtig waren.
Sein alter Freund Heiner Schultz hatte zwar nach einer Weile durchblicken lassen, dass sich auf seinem Terminkalender beim besten Willen keine weiteren zusätzlichen Schachabende mehr unterbringen ließen, wobei der Hauptkommissar erstaunt gewesen war, dass ein Herr von dreiundneunzig Jahren noch einen Terminkalender führte. Stattdessen aber hatte Albrecht endlich wieder einmal seine Schwester besucht, im Pfarrhaus in Waldlingen. Bei dieser Gelegenheit war dann auch die Erinnerung zurückgekehrt, warum er sich ein halbes Leben nicht mehr bei Leta hatte blicken lassen. Die Frau war einfach unerträglich.
Im Großen und Ganzen also …
Diese sechs Monate waren die Hölle gewesen.
Und das Schlimmste war möglicherweise, dass ihm bis heute nicht recht klar war, welchem Umstand er sie verdankte.
Die Anweisung war von Isolde Lorentz, der Polizeipräsidentin, persönlich gekommen. Albrechts letzte Ermittlung war kompliziert gewesen. Obendrein hatte er auf Lorentz’ Veranlassung hin vollkommen anders operieren müssen, als er einen Fall für gewöhnlich anging, und daraufhin hatte er Fehler begangen.
Fehler, die er selbst sich niemals verzeihen würde, und mit Sicherheit mehr als genug für ein Disziplinarverfahren.
Auf ein solches Verfahren aber hatte die Polizeipräsidentin verzichtet.
Krankgeschrieben. Die Wochen im Sanatorium hatte er noch klaglos hingenommen. Doch die vier Monate seitdem?
Ende März hatte er bei der Polizeipräsidentin vorgesprochen und war so offen gewesen, wie er das glaubte, verantworten zu können. Ob sie ihn nicht mittlerweile für ausreichend gestraft hielte?
Doch Lorentz’ Reaktion war kryptisch geblieben. Er solle sich diese Zeit unter allen Umständen nehmen. Nachdenken. Sich klarwerden, was er wirklich wolle.
Hatte er das getan? Er hatte sich Mühe gegeben.
Doch das Ergebnis blieb immer dasselbe.
Er wollte Polizist sein. Sein persönlicher Weg zur Wahrheit, zu den Dingen, die sich hinter den Dingen verbargen. Das war vor jenen Ermittlungen so gewesen, und das war auch heute noch so.
Ja, er wusste, was er wollte, und war bereit, den Beweis anzutreten.
Er war wieder Polizist. Noch sieben Stunden und dreiundvierzig Minuten bis zum Beginn seiner regulären Tagesschicht. Doch jetzt schon, seit siebzehn Minuten schon, in diesem Moment schon …
Sein Handy klingelte.
Jörg Albrecht spürte keine Überraschung.
«Hannah?»
Über die Dienstpläne hatte er sich bereits zu Beginn des Monats informiert. Schließlich musste er selbst in der aktuellen Woche berücksichtigt werden.
Schweigen im Telefon, dann: «Hau… Hauptkommissar?»
Mit einem Blinzeln vertrieb Albrecht das Déjà-vu. Genau so hatte es beim letzten Mal begonnen.
Doch was sollte Hannah Friedrichs auch sagen, wenn er um diese Uhrzeit sofort am Telefon war?
«Wir haben einen Fall», stellte er fest.
«Es …» Wieder diese minimale Pause. «Es ist Viertel nach zwölf», erklärte sie. «Also eigentlich schon Montag, streng genommen, und damit …»
Und damit hatte sie vollständig richtig kombiniert. Kriminalkommissarin Hannah Friedrichs gehörte seit einem Jahrzehnt zu Albrechts Mitarbeitern und kannte die Regeln so gut wie jeder andere: Wenn sich ein neuer Fall ergab, musste der amtierende Leiter der Dienststelle informiert werden.
Und das war seit siebzehn Minuten Jörg Albrecht.
Ebenso musste ihr klar sein, was als Nächstes von ihr erwartet wurde.
«Wo?», fragte er.
«Im Dahliengarten», sagte sie. «Im Volkspark.»
Im Hintergrund hörte er Motorengeräusch. Sie selbst war schon unterwegs.
«Luruper Chaussee», murmelte er. Mit drei Schritten war er bei der Anzugjacke. «Geben Sie mir fünfzehn Minuten. Ich nehme den Wagen.»
«In … in Ordnung. Bis gleich.»
Albrecht brummte bestätigend und legte auf. Dann betrachtete er zwei Sekunden lang das Handy.
«Bis gleich», sagte er.
Sechs Monate. Doch Hannah Friedrichs hatte nichts vergessen. Der Tatort – und kein Wort über den Fall. Jörg Albrecht würde sich dem Tatort nähern, wie er sich seit vierundzwanzig Jahren
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