Öffne deine Seele (German Edition)
Sie …»
«Vielleicht führen Sie uns einfach hin?», schlug ich vor.
Und vielleicht würden Sie uns jetzt außerdem verraten, warum Sie das PK alarmiert haben, dachte ich.
Doch ich sah, in welchem Zustand der Mann war. Kempowski hatte seine Schwächen, doch weder diese Schweißausbrüche noch dieses Gestammel waren normal bei ihm. Was hatte er gesehen? Was verbarg sich in den Schatten hinter den Beeten, das ihn dermaßen aus der Bahn geworfen hatte?
Gegen meinen Willen musste ich an den letzten Herbst denken, als wir vor den Leichen unserer eigenen Kollegen gestanden hatten. Doch aus irgendeinem Grund wusste ich, dass es diesmal nicht in diese Richtung ging.
Es war anders, noch dunkler vielleicht.
Finsternis unter den Bäumen, am Hang, der zum Volkspark hin steil anstieg. Unsere Schritte auf dem Schotterweg.
Keiner von uns sagte ein Wort, bis Kempowski langsamer wurde.
«Dort drüben», murmelte er. «Am Bassin. Wir sind nicht reingeklettert, aber das Wasser soll nicht tief sein. Nicht tief genug, um zu ertrinken, aber wie es aussieht …»
Zwei undeutliche Gestalten warteten an einem niedrigen Metallgeländer, hinter dem sich das Wasserbecken befinden musste. Die eine von ihnen war Berger, Kempowskis Kollege, die andere konnte ich nicht genau erkennen. Die Zeugin?
«Da vorne», murmelte Kempowski, und im nächsten Moment leuchtete seine Taschenlampe auf. Dahlien, wie überall hier, dann eine Reflexion auf der Wasserfläche.
Ich kniff die Augen zusammen.
Nils Lehmann an meiner Seite japste.
Das Wasser wirkte trübe. Seerosenblätter bedeckten den größten Teil der Oberfläche, dazwischen einzelne mächtige, blass rosafarbene Blüten, die sich für die Nacht geschlossen hatten. Fast im Zentrum des oval ummauerten Bassins aber sah ich ein Gesicht. Das wachsbleiche Gesicht eines Mannes, dessen Körper reglos auf der Wasserfläche zu treiben schien. Dunkles Haar klebte auf seiner Stirn wie nasser Seetang. Die blutunterlaufenen Augen starrten stumpf und blicklos gen Himmel, der Mund war aufgerissen, als würde er noch im Tod um Atem ringen.
Oder einen verzweifelten, zitternden Hilfeschrei hervorstoßen.
Dieses Gesicht …
Auf einen Schlag konnte ich Kempowski nur zu gut verstehen.
***
Der Haupteingang des Dahliengartens an der Luruper Chaussee.
Von den Einsatzfahrzeugen oder dem Wagen, mit dem Hannah Friedrichs gekommen sein musste, war keine Spur zu sehen.
Albrecht brummte zufrieden und stellte sein Fahrzeug unter den Bäumen ab.
Zwei Jugendliche schlurften vorbei, murmelten in einer dem Hauptkommissar unbekannten Sprache miteinander, die Arme bis zu den Ellenbogen in den Taschen ihrer drei Nummern zu großen Jeans versenkt. Noch schulpflichtig? Dann hätten sie um diese Uhrzeit ins Bett gehört.
Er wartete ab, bis die beiden außer Sichtweite waren, schloss dann kurz die Augen.
Seit bald dreißig Jahren war er Polizist, den größten Teil davon als Leiter des PK Königstraße. Dies war der Moment, in dem er sich diese Tatsache vergegenwärtigen musste, diesmal vermutlich mehr denn je.
Der Beginn einer Ermittlung.
Er musste sich bewusst werden, dass er in ein Spiel einstieg, einen Wettkampf. In wenigen Minuten würde er mit einem Bild konfrontiert werden: einem Leichnam an seinem Auffindungsort. Spurensicherung und Gerichtsmedizin würden hinzukommen, ihre Untersuchungen vornehmen und ihm anschließend Bericht erstatten, was Feinheiten dieses Bildes anbetraf, doch das war erst der zweite oder dritte Schritt.
Ganz am Anfang stand das Bild, und es gab einen entscheidenden Punkt, der am Ende über Erfolg oder Misserfolg der gesamten Ermittlung entscheiden würde. Keine Minute, nein, keine einzige Sekunde durfte Albrecht vergessen, dass es sich nicht um ein zufälliges Bild handelte.
Denn das genaue Gegenteil war der Fall: Das Bild, das ihn erwartete, würde mit der Sorgfalt einer Opernbühne arrangiert sein, von einem Requisiteur des Todes.
Dem Täter.
Und in diesem Augenblick würde der Wettstreit beginnen.
Würde Albrecht sich damit begnügen müssen, die Bühnendekoration zu bewundern – oder würde es ihm gelingen, die Maskierung herunterzureißen, um einen Blick auf das zu werfen, was sich dahinter verbarg?
Die Wahrheit.
Das war das Grundprinzip einer jeden Ermittlung.
Und je mehr Jörg Albrecht im Vorfeld wusste – oder zu wissen glaubte –, über den genauen Tatort, das Opfer, über etwaige Verdächtige gar und ihre Motive … desto schwieriger wurde es, sich ein
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