Öland
gesetzt«, erklärte er schließlich. »Eine Theorie. Er war
der Ansicht, dass mein Enkelkind, also unser Jens, in dem
dichten Nebel in die Alvar gelaufen ist und nicht zum Wasser.
Und er war der Meinung, dass Jens dort seinem Mörder begegnet ist.«
»Wem?«
»Vielleicht Nils Kant.«
»Nils Kant?«
»Dem toten Nils Kant, ja. Er war damals schon zehn Jahre
tot und begraben. Du hast ja seinen Grabstein gesehen. Aber
es gab da dieses Gerücht …«
»Ja, das kenne ich«, unterbrach Julia ihn. »Astrid hat mir davon erzählt. Aber wie ist dieses Gerücht aufgekommen?«
Gerlof seufzte.
»In Stenvik lebte ein Briefträger, Erik Ahnlund. Nach seiner
Pensionierung erzählte er allen, die es hören wollten, folgende Geschichte: Vera Kant habe Postkarten ohne Absender
geschickt bekommen.«
»Aha?«
»Wann das angefangen hat, weiß ich nicht«, sagte Gerlof, »aber laut Ahnlund erhielt sie in den Fünfziger- und
Sechzigerjahren Postkarten von verschiedenen Orten in Südamerika. Mehrere über das Jahr verteilt. Und immer ohne
Absender.«
»Waren die von Nils Kant?«
»Vermutlich. Das liegt jedenfalls nahe.« Gerlof ließ seinen
Blick über die Alvar schweifen. »Ein paar Jahre später kam
Nils Kant dann in einem Sarg nach Hause und wurde in Marnäs begraben.«
»Ja, ich weiß«, sagte Julia.
»Aber das mit den Postkarten ging weiter, auch nach dem
Begräbnis«, sagte Gerlof. »Aus dem Ausland und ohne Absender.«
Julia sah ihn mit gerunzelter Stirn an.
»Stimmt das wirklich?«
»Ja, das glaube ich«, sagte Gerlof. »Erik Ahnlund war zwar
der Einzige, der die Postkarten an Vera gesehen hat, aber er
hat geschworen, dass sie auch noch viele Jahre nach Nils’ Tod
ankamen.«
»Und das hat die Leute in Stenvik glauben lassen, dass Nils
Kant lebt?«
»Es hat bestimmt dazu beigetragen«, sagte Gerlof. »Die
Leute haben schon immer in der Stunde der Schatten zusammengesessen und sich Geschichten erzählt. Und Ernst, der
von Klatsch und Tratsch überhaupt nichts hielt, glaubte es
auch.«
»Und was glaubst du?«
»Ich halte es mit dem Apostel Thomas«, antwortete Gerlof.
»Ich will einen Beweis dafür haben, dass er lebt. Aber ich habe
bisher keinen gefunden.«
»Und warum wolltest du dir diesen Blomberg ansehen?«,
fragte Julia.
Gerlof zögerte mit einer Antwort, wollte nicht als alt und
verrückt abgestempelt werden.
»John Hagman glaubt, Robert Blomberg könnte Nils Kant
sein«, sagte er schließlich.
Julia starrte ihn an.
»Aha«, sagte sie. »Aber der Ansicht bist du nicht, oder?«
Gerlof schüttelte vorsichtig den Kopf.
»Das scheint mir zu weit hergeholt zu sein«, gestand er.
»Aber John Hagman hat ein paar gute Argumente: Blomberg
war Seemann. Er wuchs in Småland auf und fuhr schon als
junger Mann zur See, als Maschinist. Er war viele Jahre weg …
zwanzig oder fünfundzwanzig oder sogar mehr. Dann kam er
wiederzurück und zog nach Öland. Er hat geheiratet und
Kinder bekommen. Ich glaube, das in der Werkstatt war sein
Sohn.«
»Das klingt aber nicht besonders verdächtig«, stellte Julia
nüchtern fest.
»Nein«, stimmte Gerlof ihr zu, »das einzig Merkwürdige ist
nur, dass er so lange weg war. John hat gerüchteweise gehört,
dass er von seinem Schiff geschmissen wurde und dann jahrelang trinkend in einem Hafen in Südamerika herumlungerte, bis sich ein schwedischer Kapitän seiner erbarmt und
ihn mit nach Hause genommen hat.«
»Aber Blomberg ist doch nicht der Einzige, der nach Öland
gezogen ist.«
»Oh, nein«, sagte Gerlof. »Hierher sind Hunderte vom Festland gezogen.«
»Hat John jetzt jeden, der zugezogen ist, im Verdacht, in
Wirklichkeit Nils Kant zu sein?«
»Nein. Und ich fand auch nicht, dass er ihm ähnlich sah«,
verteidigte Gerlof ihn. »Aber man sieht ja immer, was man
sehen will. Meine Mutter, also deine Oma Sara, hat einmal
einen Troll gesehen, als sie jung war … Erinnerst du dich? Sie
nannte ihn nur den grauen Mann.«
»Ja, ich habe die Geschichte schon oft gehört, du musst sie
mir nicht mehr …«
Aber Gerlof ließ sich nicht aufhalten:
»Wie dem auch sei, sie hat ihn an einem Frühlingstag Ende
des vergangenen Jahrhunderts gesehen, als sie dabei war,
am Kalmarsund Wäsche zu waschen. Auf einmal hörte sie
schnelle Schritte hinter sich, dann kam er aus dem Wald gerauscht. Ein kleiner Mann, nur einen Meter hoch. Er trug
graue Kleidung und sagte kein Wort, rannte nur auf
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