Öland
sieht den Jungen
fest an, streckt ihm seine Hand entgegen und zeigt ihm das
Geldstück zwischen seinen Fingern. »Sag ihm, dass Nils hier
ist. Geh ins Büro und sag, dass der Direktor rauskommensoll.«
Der Laufbursche nickt, ohne auf den Namen Nils zu reagieren, und greift schnell nach dem Geldstück. Dann dreht ersich um und geht los, ohne es sonderlich eilig zu haben. Das
Geldstück steckt er in die Hosentasche.
Nils atmet auf und setzt sich wieder hinter den Busch. Jetzt
wird alles gut werden. Sein Onkel wird sich um ihn kümmern, ihn verstecken, bis sich alles wieder beruhigt hat. Er
wird bestimmt den restlichen Sommer in Småland untertauchen müssen, aber das wird schon gehen.
Er muss lange warten. Dann endlich hört er Schritte, die
sich der Scheune nähern. Nils hebt lächelnd den Kopf und
klettert aus dem Busch – aber es ist nicht sein Onkel August.
Es ist wieder der Junge mit der Mütze.
»War Direktor Kant nicht da?«, fragt Nils gereizt.
»Doch.« Der Junge nickt. »Aber der Direktor will nicht kommen.«
»Er will nicht?«, wiederholt Nils verständnislos.
»Ich soll das hier übergeben«, sagt der Junge.
Er hält einen kleinen, weißen Briefumschlag in der Hand.
Nils nimmt ihn, wendet dem Laufburschen den Rücken zu
und öffnet ihn. In dem Umschlag liegt kein Brief, nur drei
Scheine. Drei zusammengefaltete Hundertkronenscheine.
Nils verschließt den Umschlag und wirbelt herum.
»Ist das alles?«, fragt er entgeistert.
Der Laufbursche nickt.
»Der Direktor hat nichts gesagt … Er hat dir keine Nachricht für mich mitgegeben?« Nils ist fassungslos.
Der Junge schüttelt erneut den Kopf.
»Nur den Umschlag.«
Nils senkt den Blick und starrt auf die Geldscheine.
Geld ist also alles, was er bekommen hat. Geld für die
Flucht. Das ist eine ziemlich deutliche Botschaft. Sein Onkel
will nichts mit ihm zu tun haben.
Er seufzt und sieht hoch, aber der Junge mit der Mütze ist
nicht mehr da. Nils sieht nur noch, wie er um die Ecke der
Scheune biegt.
Nils ist wieder allein. Er muss jetzt ohne Hilfe zurechtkommen.
Dann soll er also fliehen. Aber wohin?
Zuallererst weg von der Küste. Nils schaut sich um. Die
Insekten summen, der Flieder duftet. Im Nordwesten sieht er
einen schmalen Streifen blaues Wasser.
Er wird zurückkehren. Jetzt mögen sie ihn davonjagen
können, aber er wird wiederkommen. Öland ist seine Insel.
Nils wirft einen letzten Blick aufs Wasser, dann dreht er
sich um und verschwindet mit langen Schritten im schützenden Wald.
16
E in breiter Pfad aus großen Kalksteinplatten führte zu Martin Malms weißem Haus hinauf. Julia betrachtete das Gebäude und musste an Vera Kants Haus in Stenvik denken. Sie
waren ungefähr gleich groß, aber dieses war frisch gestrichen, gepflegt und bewohnt. Wer hatte gestern Licht in Vera
Kants Haus gemacht? Julia konnte nicht aufhören, darüber
nachzudenken – hatte sie wirklich Licht im Fenster gesehen?
Sie stützte Gerlof, als sie das schwere Eisengitter öffneten
und langsam über die unebenen Steine gingen. Vielleicht
stützen wir uns eher gegenseitig, dachte Julia, denn sie war
sehr nervös.
Für sie war dieser Besuch eine Begegnung mit Jens’ Mörder. Wenn Martin Malm wirklich den Brief mit der Sandale
geschickt hatte, dann musste er es sein – was immer Gerlof
dagegen einzuwenden hatte.
Der Steinpfad endete an einer Treppe, die zu einer breiten
Mahagonitür führte, an der ein Messingschild mit der Aufschrift MALM befestigt war. Unterhalb eines farbigen kleinen
Fensters befand sich eine Klingel, die wie ein Schlüssel geformt war.
Gerlof sah Julia an.
»Bist du bereit?«
Julia nickte und streckte ihre Hand zum Klingelknopf aus.
»Nur noch eine Sache«, sagte Gerlof. »Martin hat vor vielenJahren eine Hirnblutung gehabt. Er hat gute und weniger
gute Tage, ähnlich wie ich. Wenn er heute einen guten Tag
hat, können wir mit ihm reden. Wenn nicht …«
»Okay«, sagte Julia mit klopfendem Herzen und klingelte.
Nach einer Weile tauchte im Glasfenster der Eingangstür
ein Schatten auf, dann wurde sie geöffnet.
Vor ihnen stand eine junge Frau von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren. Sie war klein, blond und reserviert.
»Hallo«, sagte sie.
»Guten Tag«, erwiderte Gerlof. »Ist Martin zu Hause?«
»Ja«, antwortete das Mädchen, »aber ich glaube nicht, dass
er …«
»Wir sind gute Freunde«, unterbrach Gerlof sie schnell.
»Ich heiße Gerlof
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