Öland
anfingen, es in Stücke zu brechen.
Die Glocke klingelte zum dritten und letzten Mal. Gerlof
hielt sich am Rand seines Schreibtisches fest und zog sich
hoch. Das Rheuma meldete sich wieder in seinen Gelenken.
Nachdenklich betrachtete er den Rollstuhl, der am Fußende
seines Bettes stand, aber im Haus hatte er ihn bisher noch nie
verwendet und gedachte es auch jetzt nicht zu tun.
Aber den Stock nahm er in die rechte Hand und hielt ihn in
einem festen Griff, als er sich auf den Weg in seine Diele
machte, wo seine Jacken und Mäntel auf Kleiderbügeln hingen und seine Schuhe aufgereiht standen. Er blieb kurz stehen, stützte sich auf seinen Stock und öffnete die Tür zum
Gang. Er trat hinaus und sah sich um.
Die Bewohner des Altersheims von Marnäs versammelten
sich, um zu essen. Einige grüßten sich leise, andere starrten
die ganze Zeit zu Boden.
So viel Wissen, das mir da entgegenkommt, dachte Gerlof,
als er sich dem müden Haufen auf seinem Weg in den Speisesaal anschloss.
»Willkommen zum Abendessen!«, sagte Boel, die Stationsleiterin, die lächelnd zwischen den Essenswagen stand.
Alle setzten sich vorsichtig auf ihre gewohnten Plätze.
So viel Wissen. An Gerlofs Tisch saßen ein Schuhmacher,
ein Küster und ein Landwirt mit Erfahrungen und Können,
nach dem keiner mehr fragte. Er selbst konnte noch immer in
wenigen Sekunden mit geschlossenen Augen einen Palstek
knüpfen, aber wem nützte das schon.
»Es könnte heute Nacht Frost geben, Gerlof«, sagte Maja
Nyman.
»Stimmt, der Wind kommt aus Norden«, erwiderte Gerlof.
Maja saß neben ihm, klein, runzelig und mager, aber lebhafter als irgendjemand sonst auf der Station. Sie lächelte
Gerlof an, und er lächelte zurück. Sie war eine der wenigen,
die seinen Namen richtig aussprachen, Järloff .
Maja stammte auch aus Stenvik, hatte jedoch den Landwirt
Helge Nyman geheiratet und sich in den Fünfzigerjahren im
Norden von Marnäs niedergelassen. Gerlof war nach Borgholm gezogen, als er Seemann wurde. Als Maja und er sich im
Altersheim wiedertrafen, hatten sie sich fast vierzig Jahre
nicht mehr gesehen.
Gerlof nahm ein Knäckebrot, begann zu essen und war
wie so oft dankbar, dass er noch kauen konnte. Keine Haare,
schlechte Augen, keine Kraft und schmerzende Muskeln –
aber er hatte wenigstens noch seine eigenen Zähne.
Kohlgeruch breitete sich aus. Heute stand Kohlsuppe auf
dem Speiseplan, Gerlof hob den Löffel und wartete darauf,
dass man seinen Teller füllte.
Nach dem Essen würden sich die meisten Bewohner vor den
Fernseher setzen und dort den Rest des Abends verbringen.
Die Zeiten hatten sich geändert. Es lag kein gestrandetes
Schiff mehr an Ölands Küsten, niemand erzählte mehr Gruselgeschichten in der Stunde der Schatten.
Das Abendessen war vorbei. Gerlof war wieder in seinem
Zimmer.
Er lehnte den Stock gegen das Bücherregal und setzte sich
erneut an den Schreibtisch. Es war Abend geworden. Wenn er
sich über den Tisch lehnte und die Nase gegen die Fensterscheibe drückte, würde er ein wenig von den Feldern nördlich von Marnäs sehen können und dahinter den Strand und
das dunkle Meer. Die Ostsee, sein alter Arbeitsplatz. Aber solche gymnastischen Übungen konnte er nicht mehr ausführen, sondern musste sich damit begnügen, auf die Birken hinter der Wohnanlage zu schauen.
Die Leitung nannte es schon lange nicht mehr Altersheim,
aber natürlich war es das und nichts anderes. Sie dachten
sich ständig neue Wörter aus, damit es besser klang, aber sie
waren nun einmal alte Menschen, die zusammengepfercht
wurden und in den meisten Fällen auf den Tod warteten.
Ein schwarzes Notizbuch lag neben einem Stapel von Zeitschriften auf dem Schreibtisch, und er streckte die Hand danach aus. Nachdem er die erste Woche im Altersheim nur an
seinem Schreibtisch gesessen und hinausgestarrt hatte, war
Gerlof losgegangen und hatte sich in dem kleinen Kiosk der
Anlage ein Notizbuch gekauft. Seither schrieb er.
In dem Notizbuch standen Gedanken und Ermahnungen.
Dort schrieb er sich Dinge auf, die erledigt werden mussten
und die durchgestrichen wurden, wenn sie erledigt waren,
bis auf die Aufforderung RASIER DICH!, die ganz oben auf
der ersten Seite stand und nie durchgestrichen wurde, weil es
eine tägliche Aufgabe war.
Der erste Gedanke, den er in das Buch geschrieben hatte,
lautete:
EIN GEDULDIGER IST BESSER ALS EIN STARKER, UND
WER SICH SELBST
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