Öland
Abendessen
eingeladen war, ohne Kinder. Es hatte damit geendet, dass
Richard fragte:
»Müssen wir eigentlich immer wieder diese fürchterlichen
Geschichten, die vor zwanzig Jahren passiert sind, durchkauen? Ich frage ja nur.«
Er war wütend und ein bisschen betrunken, und seine
Stimme war heiser – obwohl Julia Jens' Verschwinden nur in
einem Nebensatz erwähnt hatte, nur als Erklärungsversuch
dafür, warum es ihr schlecht ging.
Lenas Stimme war ganz ruhig, als sie kurz darauf ihre
Schwester ansah und die Worte aussprach, die Julia ihr nicht
verzeihen konnte.
»Er kommt nie mehr zurück«, hatte Lena gesagt. »Alle wissen das … Jens ist tot, Julia. Das musst doch sogar du begreifen?«
Es hatte ihr zwar nicht geholfen, aufzuspringen und Lena
hysterisch anzuschreien, aber Julia hatte es trotzdem getan.
Darum hatte sie sich zwei Jahre später geweigert, Lena
nach Öland zu begleiten, um Gerlof beim Umzug ins Altersheim zu helfen.
Julia parkte den Wagen auf der Straße und ging packen.
Nachdem sie Kleidung für etwa zehn Tage eingepackt hatte
sowie ihre Toilettensachen, ein paar Bücher, zwei Flaschen
Rotwein und ein paar Tabletten, aß sie etwas Brot und trank
Wasser statt Wein. Dann ging sie schlafen.
Aber als sie im Bett lag, starrte sie in die Dunkelheit und
konnte nicht einschlafen. Sie stand auf, ging ins Badezimmer, nahm eine Tablette und legte sich wieder hin.
Der Schuh eines kleinen Jungen. Eine Sandale.
Sie schloss die Augen und sah sich als junge Mutter, die
Jens seine Sandalen anzog, und die Erinnerung lastete schwer
auf ihrer Brust, war eine bleierne Ungewissheit, die Julia
schaudern ließ.
Jens' kleiner Schuh, nach zwanzig Jahren ohne eine einzige Spur von ihm. Nach der endlosen Suche auf Öland, dem
endlosen Grübeln in schlaflosen Nächten.
Die Schlaftablette begann zu wirken.
Es war noch dunkel, als Julia aufstand. Sie frühstückte,
schloss die Wohnung hinter sich ab und setzte sich ins Auto.
Dann ging es endlich los, in den Sonnenaufgang und den
morgendlichen Verkehr. Die letzte Ampel wurde grün, dann
bog sie auf die Autobahn nach Osten, fort von Göteborg.
Die ersten Kilometer fuhr sie mit heruntergekurbeltem
Fenster, damit die kalte Morgenluft alle Spuren des Parfums
ihrer Schwester auslüftete.
Sie fuhr quer durchs Land bis an die Ostküste und versuchte sich darüber zu freuen, dass sie eine längere Reise
machte, viel länger als alles, was sie seit vielen Jahren unternommen hatte.
An einer Raststätte kurz vor der Küste hielt sie an, um zu
tanken und ein paar Bissen eines Eintopfs zu essen, der
zäh, klebrig und seinen Preis nicht wert war, dann fuhr sie
weiter.
Zur Ölandbrücke. Nördlich von Kalmar führte die Brücke
auf die Insel, die vor zwanzig Jahren gebaut, fertiggestellt
und eingeweiht worden war, im selben Herbst wie … dieser
Tag.
Die Ölandbrücke ragte hoch und unerschütterlich über
den Sund, auf breiten Betonpfeilern, und bewegte sich keinen Millimeter in den Windstößen, die am Auto zerrten. Sie
war breit und gerade, abgesehen von einer kleinen Erhebung
nahe dem Festland, unter der größere Schiffe die Fahrbahn
passieren konnten. Es war ein guter Aussichtspunkt, und sie
konnte die flache Insel jetzt sehen. Sie erstreckte sich von
Nord nach Süd am Horizont.
Sie sah die Große Alvar, jene grasbewachsene Kalksteppe,
die große Teile von Öland bedeckt. Tiefe, dunkle Wolken zogen langsam über die Landschaft wie längliche Luftschiffe.
Die Touristen und die Öländer liebten es, dort umherzuwandern und Vögel zu beobachten, aber Julia mochte die Alvar nicht. Sie war ihr zu groß – und es gab auf ihr nirgendwo
eine Möglichkeit, Schutz zu suchen, falls der gewaltige Himmel darüber herabstürzen sollte.
Hinter der Brücke fuhr sie nach Norden, Richtung Borgholm. Es war eine beinahe kerzengerade Strecke entlang der
westlichen Küste. Da die Saison vorbei war, kam ihr kaum
jemand entgegen. Julia starrte nach vorn, um nicht auf die
trostlose Alvar auf der einen und das große Meer auf der anderen Seite sehen zu müssen, und versuchte nicht an eine
kleine Sandale mit angenähtem Riemen zu denken.
Das bedeutete nichts, musste nichts bedeuten.
Für die Strecke von der Brücke bis Borgholm benötigte sie
fast eine halbe Stunde. Es gab dort nur eine einzige Kreuzung
mit Ampel, und sie beschloss, links abzubiegen und zu der
kleinen Stadt am Wasser zu
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