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Ohne ein Wort

Ohne ein Wort

Titel: Ohne ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linwood Barclay
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kriegen würde. Meist war der Ball so schnell, dass ich ihn überhaupt nicht kommen sah.
    Eines Abends hockte ich vor meiner Royal-Schreibmaschine, schon damals beinahe eine Antiquität, ein klobiges, schwarzes Gerät aus Stahl, so schwer wie ein Volkswagen; das »e« sah eher nach »c« aus, selbst mit frischem Farbband. Ich saß an einer Hausarbeit überThoreau, die mir komplett am Arsch vorbeiging, und dass Cynthia, wenn auch vollkommen angezogen, über der Lektüre von Robertson Davies’ »Der Fünfte im Spiel« auf dem Einzelbett in meiner Wohnheimbude eingeschlafen war, machte die Sache auch nicht besser.
    Ich hatte sie eingeladen, doch vorbeizukommen und mir beim Schreiben zuzusehen. »Gar nicht so uninteressant«, sagte ich. »Ich schreibe nämlich mit Zehnfingersystem.«
    »Wie? Mit allen Fingern gleichzeitig?«
    Ich nickte.
    »Klingt verlockend«, sagte sie.
    Sie brachte selbst ein bisschen Arbeit mit, hockte sich auf mein Bett und las, obwohl ich genau spürte, dass sie mich ab und an beobachtete. Wir waren ein paarmal miteinander ausgegangen, aber zu Körperkontakt war es bislang kaum gekommen. Ein paarmal hatte ich im Café beim Aufstehen ihre Schulter beiläufig mit der Hand gestreift; ich hatte ihr die Hand gereicht, wenn wir aus dem Bus stiegen, und einmal waren wir mit den Schultern zusammengestoßen, als wir zum Abendhimmel aufgesehen hatten.
    Mehr war nicht passiert.
    Ich meinte sie aufstehen zu hören, war aber gerade mit einer Fußnote beschäftigt. Dann stand sie hinter mir, und mit einem Mal schien sich der Raum mit elektrischer Spannung aufzuladen. Sie umarmte mich von hinten und küsste mich auf die Wange. Ich wandte mich zu ihr, sodass sich unsere Lippen finden konnten.
    Später, als wir auf dem Bett lagen, kurz bevor es passierte, sagte sie: »Du kannst mich nicht verletzen.«
    »Ich will dir nicht wehtun«, sagte ich. »Ich bin ganz vorsichtig.«
    »Das meine ich nicht«, flüsterte sie. »Wenn du nicht mit mir zusammen sein willst, mach dir keine Sorgen. Nichts kann mir mehr wehtun als das, was schon geschehen ist.«
    Womit sie falsch lag, wie sich noch herausstellen sollte.

FÜNF
    Als wir uns besser kennenlernten und Cynthia sich mir allmählich öffnete, erzählte sie mir mehr von ihrer Familie, von Clayton, Patricia und ihrem älteren Bruder Todd, den sie mal liebte, mal hasste, je nachdem, in welcher Stimmung sie gerade war.
    Wenn sie von ihnen redete, berichtigte sie oft das Tempus, in dem sie sprach. »Meine Mutter hieß … Meine Mutter heißt Patricia.« Sie befand sich in permanentem Widerstreit mit dem Teil von ihr, der sich damit abgefunden hatte, dass sie tot waren. Noch glomm in ihr ein leiser Hoffnungsfunke, der müde schimmerte wie die Glut eines ersterbenden Feuers.
    Sie war ein Mitglied der Familie Bigge. Was ein schlechter Witz war, da zumindest ihr Vater keine Verwandten hatte, weder Brüder noch Schwestern; seine Eltern waren in seiner Kindheit gestorben. Es hatte nie Familientreffen gegeben und dementsprechend keine Meinungsverschiedenheiten zwischen Clayton und Patricia, bei welchen Großeltern das Weihnachtsfest verbracht werden sollte, auch wenn Clayton während der Festtage zuweilen beruflich unterwegs war.
    »Die Familie, das bin ich«, hatte er zu sagen gepflegt. »Sonst gibt’s niemanden mehr.«
    Sonderlich sentimental schien er auch nicht gewesenzu sein. Es gab keine verstaubten Fotoalben, in denen man vorige Generationen bestaunen konnte, keine Schnappschüsse von früher, keine Liebesbriefe von verflossenen Liebschaften, die Patricia hätte verbrennen können, als sie Clayton geheiratet hatte. Er lebte im Hier und Jetzt und war ganz und gar nicht nostalgisch veranlagt.
    Zugegeben, Patricias Familie war ebenfalls nicht sehr groß, aber immerhin hatte sie eine Geschichte. Patricia besaß jede Menge Bilder von ihren Eltern, entfernten Verwandten und Jugendfreunden, die in Fotoalben oder Schuhkartons aufbewahrt wurden. Ihr Vater war in ihrer Kindheit an Polio gestorben, doch ihre Mutter hatte noch gelebt, als sie Clayton kennengelernt hatte. Sie fand ihn charmant, wenn auch ein wenig schweigsam.
    Patricias Schwester Tess war nicht ganz so begeistert. Es gefiel ihr nicht, dass Clayton dauernd auf Geschäftsreisen und Patricia bei der Erziehung der Kinder quasi auf sich allein gestellt war. Andererseits war er ein guter Versorger und nicht zuletzt ein anständiger Kerl, der Patricia innig zu lieben schien.
    Patricia Bigge hatte in einem Drogeriemarkt an der

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