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Ohne ein Wort

Ohne ein Wort

Titel: Ohne ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linwood Barclay
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Kinder, und ich habe ihr Leben wohl ziemlich auf den Kopf gestellt, als ich nach der ganzen Sache zu ihr gezogen bin. Aber sie hat sich damit abgefunden. Na ja, was blieb ihr auch anderes übrig? Abgesehen davon, dass es für sie genauso schrecklich war wie für mich – schließlich waren ihre Schwester, ihr Schwager und ihr Neffe von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden.«
    »Was ist damals mit eurem Haus passiert?«
    »Allein konnte ich dort nicht bleiben. Außerdem war das Haus mit einer Hypothek belastet, und als meineFamilie nicht wieder auftauchte, hat die Bank es einkassiert. Das Geld, das meine Eltern in das Haus gesteckt hatten, kam auf ein Treuhandkonto, aber es war nicht viel. Tja, und inzwischen sind sie so lange verschwunden, dass sie als tot gelten. Zumindest juristisch, auch wenn sie es vielleicht gar nicht sind.«
    Was sollte ich darauf erwidern?
    »Jedenfalls hat Tante Tess für mich gesorgt, meine gesamte Schulzeit hindurch. Klar, ich hatte auch Ferienjobs und so, aber damit konnte ich sie kaum entlasten. Ich weiß nicht, wie sie es hinbekommen hat, aber sie ist für alles aufgekommen, meine gesamte Ausbildung. Sie muss bis über beide Ohren verschuldet sein, hat sich aber noch nie beklagt.«
    »Oh, Mann«, sagte ich und nahm einen Schluck Kaffee.
    Nun lächelte Cynthia zum ersten Mal. »Oh, Mann?«, sagte sie. »Ist das alles, was dir dazu einfällt, Terry? Oh, Mann? « Dann verschwand ihr Lächeln so schnell, wie es gekommen war. »Tut mir leid. Ich wüsste selbst nicht, was ich sagen sollte, wenn ich mir gegenübersitzen würde.«
    »Wie wirst du eigentlich mit alldem fertig?«, fragte ich.
    Cynthia nippte an ihrem Kaffee. »An manchen Tagen würde ich mich am liebsten umbringen. Aber was, wenn sie am nächsten Tag auftauchen würden?« Sie lächelte wieder. »Da würde ich mich schwer in den Hintern beißen, was?«
    Erneut verschwand ihr Lächeln, als würde es von einer sanften Brise davongetragen.
    Eine rote Haarlocke fiel ihr in die Stirn und sie strich sie hinters Ohr. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte sie dann. »Entweder sind sie tot und hatten nie die Chance, sich von mir zu verabschieden. Oder sie leben noch und es war ihnen von Anfang an egal.« Sie sah aus dem Fenster. »Ich weiß nicht, was ich schlimmer finden soll.«
    Wir schwiegen eine Weile. Schließlich sagte Cynthia: »Ich finde dich nett. Wenn ich mit jemandem ausgehen würde, dann mit jemandem wie dir.«
    »Wenn Not am Mann ist«, sagte ich, »weißt du ja, wo du mich findest.«
    Sie blickte abermals aus dem Fenster auf den Campus hinaus, und einen Moment lang befürchtete ich, sie sei völlig in ihren Erinnerungen versunken.
    »Manchmal«, sagte sie, »kommt es mir vor, als würde ich sie sehen.«
    »Wie meinst du das?«, fragte ich. »So, als wären sie Geister?«
    »Nein«, sagte sie, den Blick immer noch aus dem Fenster gerichtet. »Nein, manchmal halte ich wildfremde Menschen auf den ersten Blick für meinen Vater oder meine Mutter. Ich sehe jemanden von hinten, und plötzlich kommt mir die Art, wie er oder sie den Kopf hält, irgendwie bekannt vor. Oder ich sehe irgendeinen Typen, ein, zwei Jahre älter als ich, der mein Bruder sein könnte. Sieben Jahre ist es jetzt her. Na ja, meine Eltern sehen bestimmt nicht viel anders aus als damals, aber auch wenn mein Bruder sich völlig verändert hätte, würde ich ihn doch trotzdem irgendwie wiedererkennen, oder?«
    »Wahrscheinlich«, sagte ich.
    »Und sobald mir so jemand ins Auge fällt, laufe ich ihm hinterher, um zu sehen, wie er von vorn aussieht. Manchmal fasse ich die Leute sogar am Arm, damit sie sich umdrehen und mich ansehen.« Sie wandte sich vom Fenster ab und starrte in ihre Tasse, als könne sie dort eine Antwort finden. »Aber sie sind es nie.«
    »Na ja, irgendwann wird sich das bestimmt geben«, sagte ich.
    »Wenn ich sie gefunden habe«, sagte Cynthia.

    Wir begannen uns regelmäßig zu treffen. Wir gingen zusammen ins Kino, büffelten gemeinsam in der Bibliothek. Sie versuchte mich für Tennis zu begeistern. Es war noch nie mein Sport gewesen, aber ich gab mir alle Mühe. Cynthia hätte als Erste zugegeben, dass sie alles andere als brillant, einfach nur eine durchschnittliche Spielerin mit einer starken Rückhand war, doch das reichte aus, um Hackfleisch aus mir zu machen. Wenn ich sah, wie der Ball auf sie zuflog und ihr rechter Arm über die linke Schulter schwang, wusste ich im selben Augenblick, dass ich ihren Return nie im Leben

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