Ohne Netz
Nachbarin: »Stimmt, du schreibst mehr als hundert am Tag.«
»Gar nicht wahr. Fünfzig. Höchstens.«
Die Nachbarin: »Schau doch, wie rot du wirst. Achtzig, Mindestens.«
Eine Bank weiter sagt ein Junge, er habe sein Handy immer bei sich. »Aber abhängig? Wenn wir im Sommer in das türkische Dorf fahren, aus dem meine Eltern kommen, bin ich jedes mal sechs Wochen offline. Ohne Probleme.«
Das Mädchen, das öfters das Gefühl hat, ihr Zimmer vibriere, stimmt ihm zu: »Also, abhängig, ich weiß nicht.«
Ihre neben ihr sitzende Schwester: »Ich glaub’s ja nicht! Natürlich bist du abhängig. Du nimmst den Blackberry doch mit unter die Dusche!«
»Moooment! Ich nehm ihn nur mit ins Bad, aber ich leg ihn aufs Waschbecken, solange ich dusche.«
»Und was war beim Joggen?«
Die erste sagt: »Oh nein« und hält sich kichernd die Hände vors Gesicht.
»Die geht immer mit Handtasche joggen, um das Ding dabeizuhaben. Dann simst sie während des Laufens. Einmal ist ihr der Blackberry dabei runtergefallen und ein Auto ist drübergefahren. Danach hat sie mich halb verrückt gemacht, alle drei Minuten hat sie mir meines abgenommen, um ihren Facebook-Account zu checken.«
»Höchstens alle fünf Minuten«, sagt die Schwester lachend hinter ihren Händen.
21. MAI
Eine Freundin fragt, wie denn das halbe Jahr nun gewesen sei. Ich sage: »Herrlich. Wunderschön. Und vor allem war ich erstaunt, wie gut das im Dezember geklappt hat, fünf Uhr aufstehen, zwei Stunden schreiben, Sohn in die Schule bringen und dann in die Arbeit.« B. sagt: »Naja, dafür lagst du dann an fast allen Wochenenden kränkelnd oder k.o. im Bett.«
22. MAI
Mein innerer Stadtplan hat sich im Lauf der Monate geändert. Ich habe Telefonzellen und Briefkästen früher gar nicht wahrgenommen. Heute blinken sie wie vertraute Leuchttürme in mein Blickfeld. Und ich könnte auf einem Stadtplan mein eigenes Kommunikationsnetz einzeichnen: Da ist das Telefon, an dem das geheimnisvolle Käse-Leinsamen-Sex-Post-it hing. An dem Kasten habe ich immer meine Karten eingeschmissen, da vorne ist der mit der späteren Leerungszeit, und an dem habe ich mal abends unseren Briefträger abgefangen und ihm noch zwei Karten in den Sack geschmissen. – Während ich jetzt durch die Stadt radle, nehme ich Abschied von all diesen Krücken meiner analogen Zeit. Sie werden, wenn ich online bin, wieder verblassen und mit der Zeit im Stadthintergrund verschwinden.
23. MAI
S., hereinkommend: »Kann ich Maulwurf kucken?«
Ich: »Das geht leider immer noch nicht. Ich hab doch das Internet abgeschaltet.«
»Ist das das, wo die Computer so verbunden sind?«
»Ja. Und mein Computer holt sich den Maulwurf dann von einem anderen Computer.«
»Wie? Nimmst du den anderen den Film weg? Dann können doch die das gar nicht mehr schauen.«
Ich will gerade erklären, Datenströme, File-Sharing, da unterbricht sie mich: »Warum hast du das ... dieses Dings eigentlich abgeschaltet?«
»Weil ich dachte, dass mich das nervös macht.«
S., singend: »Nervöööse Böse. Bööööse Nervöse, vöse, vöse.« (geht ab, im Flur zu ihrem Bruder:) »Hey, komm, wir machen Zirkus, ich bin ein begierischer Tiger aus Sabinien.«
24. MAI
Beeindruckend, dass so gut wie alle immer wieder sagen: Ich mail’s dir. Musste googeln. Schau’s dir im Netz an. Nach einer Sekunde fällt es ihnen dann immer ein, sie schlagen sich an den Kopf, ach so, genau, geht ja nicht. Aber sie haben das Netz dermaßen internalisiert, dass auch nach einem halben Jahr die digitalen Reflexe jedes Mal schneller sind.
26. MAI
Letzte Postkarten, letzte Briefe. Aufräumen bei Axel. Und vorhin mein letztes Fax geschickt (hoffentlich): Am Postamt im Hauptbahnhof sagen sie, also Faxgerät, so etwas hätten sie lange schon nicht mehr, aber angeblich gebe es noch eines im Karstadt. Im Karstadt irre ich durch alle fünf Stockwerke, am Ende sagt eine Verkäuferin in der Hosenabteilung, nebenan, in der Fußgängerzone, sei ein Internetcafé. Und tatsächlich: Im Coffee Fellows haben sie noch ein Faxgerät. Die junge Frau an der Kasse hat das seltsame Gerät aber allem Anschein nach noch nie bedient, sie nähert sich ihm mit beeindruckend behutsamer Furcht, schaut mit Giraffenhals auf all die Knöpfe herunter wie auf ein bissiges Tier und murmelt: »Und wo gibt man da jetzt die Nummer ein?« Ich fühle mich wie einer von diesen grenzwertig freakigen Flaneuren, die um 1840 zum Zeichen ihres Protestes gegen die großstädtische
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