Ohne Netz
Mails auf mich gewartet. Ungefähr 30 pro Tag. Deutlich weniger als sonst, was aber auch kein Wunder ist, irgendwann haben die Leute eben begriffen, dass ich weg bin. Jetzt bin ich wieder da, und es ist wie immer, bis zu 70-mal am Tag heißt es: Sie haben eine neue Mail. Fühlt sich an, als hätte ich ein halbes Jahr summend an einer kleinen Sandburg gebaut: hier noch ein Türmchen, zwei Mauern ringsum und der Burggraben nicht, zu vergessen – ha, was für eine Festung, uneinnehmbar! Kaum aber kommt die Flut zurück, ebnet der endlose Ozean das ganze Bauwerk wieder ein.
Meine Befürchtung, kolossale Umbrüche in dem halben Jahr verpasst zu haben, war unberechtigt, Web 3.0 ist nicht in Sicht, alles ist wie immer: Auf Spiegel Online zieht Angela Merkel ihre Mundwinkel nach unten, das Öl im Golf von Mexiko ist auch im Netz in alle Kanäle gesickert, und auf Youtube kann man immer noch sehen, wie Keith Jarrett im Zuge seines anti-elektrischen Feldzuges sein Publikum präventiv als Haufen von Arschlöchern beschimpft, nur für den Fall, dass jemand es wagen sollte, während des Konzerts ein Foto zu machen.
Auch mein Suchtmuster ist das alte geblieben. Eine Woche nach dem Ende meiner Fastenkur fahre ich für eine Nacht nach Berlin. Im Foyer des Hotels logge ich mich viermal in deren Rechner ein, um nach Mails zu schauen. Klar, alles sehr, sehr wichtig, die WM beginnt, ich muss mit meinem Freund Titus Arnu eine tägliche Sonderseite betreuen, da ist viel Zeug zu organisieren, aber muss ich mich deshalb tatsächlich viermal einloggen?
Und zu Hause habe ich entgegen all meiner Vorsätze tatsächlich gleich am ersten Abend versucht, Safari und Firefox wieder auf dem Rechner zu installieren. Der Grund: Ich wollte unbedingt sehen, ob – ach, wozu soll ich das überhaupt erklären? Der Grund war ja doch nur ein Vorwand, gäbe es den nicht, ich hätte irgendeinen anderen gefunden. Ich wollte einfach wieder meine alte Gewohnheit aufnehmen. Glücklicherweise werde ich aber, wenn ich Safari aktivieren will, jetzt nach einem Passwort gefragt. Das hat mein fürsorglicher Freund Axel anscheinend Ende Februar eingestellt, nach meinem Rückfall. Als ich ihn danach frage, antwortet er:
»Willst Du’s wirklich wissen?«
»Eigentlich nicht.«
»Eben. Hat mit Bob Dylan zu tun. Mit einem seiner Songs.«
Bob Dylan steht jetzt also zu Hause vor meinem Interneteingang wie der Erzengel vor der Tür zum Paradies. Ich hätte nie gedacht, dass ich diesem Quengelbarden noch mal dankbar sein müsste in meinem Leben ...
So experimentiere ich jetzt herum. Einmal, ich muss zur Ölpest im Golf von Mexiko recherchieren, stelle ich den Laptop meiner Frau auf meinen Schreibtisch, gehe dort ins Internet und schreibe auf meinem Apple. Das kann’s ja wohl nicht sein. An einem anderen Tag bleibe ich abends lange im Büro und recherchiere hier. Als ich heimkomme, schlafen alle schon, das ist auch nicht das Gelbe vom Ei. Soll ich mir einen Zweitrechner besorgen, den ich in den Flur stelle, damit ich im Stehen schnell ab und zu Netzzeug erledige, aber nicht, stundenlang darin versacke? Ich würde ja so gerne ein paar kernige Tipps am Ende geben. B. meint, ich solle einfach jedes Mal überlegen, ob ich jetzt wirklich ins Netz müsse oder nicht, und dann frei entscheiden. Ich nicke, als sie das sagt, gute Idee, aber insgeheim bin ich ratlos. Der freie Wille ist bei uns Junkies ausgeleiert wie ein altes Gummiband.
Für das Fest, von dem ich im Dezember, in den schlimmsten Tagen meines Fastendeliriums, geträumt hatte, habe ich das Maxim-Kino gemietet, einen der analogsten Orte Münchens: uralter Saal, Ein-Mann-Betrieb. Der 70-jährige Sigi Daiber zeigt da unverdrossen am Mainstream-Geschmack vorbei seine Filme. Die Türen standen offen, man roch den Regen auf dem staubigen Teer und hörte die Schwalben in der Dämmerung. Vor der Leinwand war ein Büffet aufgebaut, irgendwann zeigte ich »Eternal Sunshine of the Spotless Mind«, diesen großartigen Film über den Wert der Erinnerung. Alle Grand-Prix-Interessierten hingen freilich den ganzen Abend über an ihren Smartphones, um zu kucken, ob Lena gewinnt. Gegen Mitternacht sagte Sigi Daiber beim Gläserspülen ganz beiläufig:
»Deine Freunde könnten das auch mal brauchen, so eine Fastenzeit.«
Und dann war da noch der Mann von der IT, den ich am 31. Mai telefonisch bat, mir in der Nacht wieder Firefox und den ganzen Rest auf den Rechner zu spielen. Der wusste zunächst mal gar nicht, was ich meine. Als
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