Oksa Pollock. Die Entschwundenen
bei der Hand und zog sie mit sich.
»Komm mit, ich bin sicher, dass er sich irgendwo versteckt hat. Den stöbern wir schon auf, keine Sorge!«
Seit Zoé bei den Pollocks wohnte, erlebte Oksa zum ersten Mal in ihrem Leben das wunderbare Gefühl, eine Freundin zu haben. Eine echte Freundin. Anfangs hatte sie Mitleid empfunden angesichts dessen, was Zoé alles hatte durchmachen müssen, doch ihr Mitgefühl war bald einer echten Zuneigung gewichen, die sich als gegenseitig entpuppte und von der beide Mädchen gleichermaßen überrascht waren. Inzwischen verband die beiden ein dunkles Geheimnis und schweißte sie aufs Engste zusammen.
»Der kann was erleben!«, schimpfte Oksa.
Die beiden waren nach einer halben Stunde vergeblichen Suchens wieder an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt und machten sich nun größere Sorgen, als sie sich eingestehen wollten. Es war schon später Nachmittag und die Schüler verließen nach und nach das Schulgebäude.
»Du solltest zu Hause anrufen«, schlug Zoé vor. Auf ihrer Stirn stand eine Sorgenfalte, die Oksas banges Gefühl noch verstärkte.
Als Pierre Bellanger und Pavel Pollock auf dem Schulhof eintrafen, machten die Mädchen aus ihrer Angst keinen Hehl mehr. Fast eine Stunde lang suchten die vier jeden Winkel des Schulhauses ab.
»Er ist weder bei euch am Bigtoe Square noch bei uns zu Hause«, stellte Pierre fest, während er sein Handy zuklappte.
Dann schloss der Hausmeister die Tore der St.-Proximus-Schule, und sie mussten sich der unleugbaren Tatsache stellen: Gus war verschwunden. Die Ruhe der letzten paar Monate war offenbar nur eine kurze Verschnaufpause gewesen.
Die Rette-sich-wer-kann waren wie vor den Kopf gestoßen. Brune und Naftali Knut, die imposanten Schweden, und Leomido, Dragomiras Bruder, waren aus Solidarität angereist und hatten sich im Haus der Pollocks eingefunden. Die Nacht war längst hereingebrochen, was die bedrückende Atmosphäre noch verstärkte. Pierre saß mit eingefallenem Gesicht da und stützte seine Frau Jeanne, die ununterbrochen still vor sich hin weinte. Dragomira kam herbei, um die beiden in den Arm zu nehmen. Sie suchte nach Worten, die ihnen Zuversicht oder Trost spenden sollten, fand jedoch keine. Pavel stand hinter Maries Rollstuhl, den Blick auf Oksa gerichtet.
»Vielleicht sollten wir die Polizei rufen«, schlug Oksa mit rauer Stimme vor.
»Nein, Oksa, auf keinen Fall«, erwiderte Abakum, der Beschützer der Rette-sich-wer-kann. »Außerdem würden die sowieso nur unterstellen, dass er ausgerissen ist.«
»Gus ist doch kein Ausreißer! Er ist entführt worden!«, rief Jeanne, außer sich vor Angst.
Aber von wem?, fragten sich alle im Stillen. Doch keiner wagte, den Gedanken laut auszusprechen.
Nur Oksa fasste sich ein Herz und sagte: »Glaubt ihr, dass es ein Treubrüchiger sein könnte? McGraw war doch bestimmt nicht der Einzige, der aus Edefia hinauskatapultiert wurde. Woher wollen wir wissen, dass es nicht noch mehr gibt?«
Die anderen blickten sie beinahe dankbar an. Von allen denkbaren Möglichkeiten war dies diejenige, die sie sich noch am ehesten wünschten. Denn in diesem Fall wäre Gus ein Tauschmittel, und solange nicht verhandelt worden war, würde ihm auch kein Leid geschehen. Aber was, wenn es sich nicht um einen Treubrüchigen handelte? Daran wagte niemand zu denken.
Die ganze Nacht hindurch hielten sie Wache, starrten gebannt auf die Tür oder warteten auf das Klingeln eines Handys. Dabei ergingen sie sich in endlosen Spekulationen. Gegen fünf Uhr morgens entdeckte Oksa, die neben der niedergeschlagenen Zoé auf einem Sofa kauerte, etwas, das sich als eine erste Spur erweisen sollte. Sie hielt immer noch Gus’ Handy in der Hand und hörte sich zum hundertsten Mal die letzte Nachricht auf seiner Mailbox an. Die Nachricht stammte von Jeanne; ihr Anruf hatte das Signal ausgelöst, das Oksa durch die Tür des Chemiesaals gehört hatte. »Gus, ich erreiche dich gerade nicht. Dein Vater kommt in einer Stunde, um euch abzuholen. Bis später!«
Plötzlich kam Oksa ein Gedanke. Vielleicht hatte Gus ja etwas anderes aufgenommen? Unglaublich, dass sie nicht schon früher daran gedacht hatte! Sie sah sofort nach: Was die Nachrichten anging – Fehlanzeige. Doch bei den Bilddateien gab es etwas Seltsames: Unmittelbar vor dem Anruf seiner Mutter – das bestätigten die Zeitangaben auf dem Handy – hatte Gus ein eigenartiges Foto aufgenommen.
»Seht mal!«
Oksa zeigte den anderen das winzige Bild, das auf dem
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