Oksa Pollock. Die Entschwundenen
Absatz kehrt und ging auf den Kreuzgang aus grauem Stein zu. Gus schaute ihr nach, bis sie im Schatten der Treppe verschwunden war, die ins Innere des altehrwürdigen Gemäuers führte.
Zwanzig Minuten später saß Gus immer noch an derselben Stelle, den Rücken an den Rand des Springbrunnens gelehnt.
»Gus!«, rief ein strohblonder Junge. »Komm mit! Wir werfen ein paar Körbe!«
»Nein, danke, Merlin, ich warte auf Oksa.«
Aus Langeweile befühlte er die kleine Tasche und spürte unter dem Stoff einen runden, weichen Körper. Das Wackelkrakeel … Wenn es mal bloß schön stillhielt! Als hätte das kleine Geschöpf seine Gedanken lesen können, vermeldete es plötzlich:
»Kein Grund zur Sorge, junger Meister. Selbstbeherrschung ist meine Devise, denn, wie Ihr ja sicherlich wisst: Erregung und Überschwang sind die Feinde der Tarnung.«
Gus grinste über diesen exzentrischen Ratschlag.
»Mensch, Oksa … was treibst du denn bloß so lange?«, murmelte er wenig später.
»Ich kann Euch berichten, dass die Junge Huldvolle sich gegenwärtig bei den Waschbecken auf der Mädchentoilette im ersten Stock befindet, Entfernung exakt sechsundfünfzig Meter Luftlinie, Richtung Nordnordwest«, meldete sich prompt das kleine Geschöpf mit gedämpfter Stimme aus dem Inneren der Tasche.
Gus lief bei der Vorstellung, jemand könnte diese eigenartige Unterhaltung mitbekommen haben, ein Schauder über den Rücken. Doch alle waren so sehr damit beschäftigt, sich auszutoben, dass niemand ihm Beachtung schenkte. Schließlich raffte er sich vom Boden auf und steuerte selbst die Treppe an.
Als er den Flur im ersten Stock entlangging, hörte er nur noch den gedämpft vom Hof heraufdringenden Lärm und das Geräusch seiner eigenen Schritte auf dem Steinfußboden. Ein komisches Gefühl überkam ihn, und ihm fielen die schrecklichen Ereignisse wieder ein, die sich hier vor vier Monaten zugetragen hatten … Oksas Verwundung, der teuflische McGraw, Madame Crèvecœur … Als er am Chemiesaal vorbeikam, fiel sein Blick unwillkürlich auf die Tür. Im selben Augenblick hörte er einen Gesang. Einen tieftraurigen, langsamen Gesang, fast wie ein Weinen. Neugierig drückte er die Klinke herunter: Die Tür war offen. Gus ging in den Raum und sah sich um. Es war niemand da, und doch klang es, als ob direkt neben ihm jemand schluchzte. Er schaute in Oksas Tasche: Das Wackelkrakeel gab keinen Mucks von sich.
»Was ist das bloß? Was hat das zu bedeuten?«
Oksas Tasche an sich gedrückt, schritt er langsam den Chemiesaal ab. Er sah unter den Bänken nach, warf einen Blick in den angrenzenden Materialraum und dann in den Wandschrank. Nichts. Und doch hatte er die sanfte und zugleich eindringliche Klage immer noch deutlich im Ohr. Er hörte auf zu suchen, blieb mitten im Raum stehen und lauschte konzentriert. Jetzt konnte er aus dem Weinen, das ihn umgab, Worte heraushören, die allerdings nicht genau zu verstehen waren.
»Was sagen Sie? Wer sind Sie?«, stammelte er und blickte sich trotz wachsender Angst suchend um.
Eine Stimme drang an sein Ohr. Sie klang nah und fern zugleich.
»Ich bin hier, direkt vor dir. Ich brauche deine Hilfe! Bitte befreie mich … bitte!«
Oksa hatte ihren Ärmel ausgewaschen und wollte gerade auf den Schulhof zurückkehren, als sie auf einmal das Geräusch eines Nebelhorns hörte.
»Na, so was! Das klingt wie Gus’ Handy!«
Als sie am Chemiesaal vorbeikam, wurde das Geräusch lauter, dann verstummte es plötzlich. Oksa blieb stehen, lauschte ein paar Augenblicke und lächelte. Sie hörte genau das, was sie erwartet hatte: Darth Vaders dumpfe Stimme verkündete, dass Gus eine Nachricht auf seiner Mailbox hatte. Also hatte sie sich nicht getäuscht. Ohne Zögern öffnete sie die Tür zum Chemiesaal und ging hinein.
»Gus? Bist du da?«
Keine Antwort. Oksa blickte sich um und schaute unter die Tische. Diese Art von Streichen passte zwar nicht zu Gus, aber man konnte ja nie wissen. Dann entdeckte sie das Mobiltelefon auf dem Fußboden.
»Wieso liegt denn sein Handy hier herum?«, fragte sie sich stirnrunzelnd.
Sie hob es auf, blickte sich noch einmal verdutzt um und verließ den Chemiesaal, um zu den anderen zurückzukehren.
»Habt ihr zufällig Gus gesehen?«
Zoé schaute auf, und ein besorgter Ausdruck huschte über ihr hübsches Gesicht.
Um sie zu beruhigen, setzte Oksa rasch hinzu: »So ein Schussel … Sieh nur, er hat sein Handy verloren!«
In ihrer typisch stürmischen Art ergriff sie Zoé
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