Oksa Pollock. Die Entschwundenen
vor, so dicht und intensiv war sie, geradezu samtig. Gus streckte die Hand aus, darauf gefasst, jeden Augenblick auf irgendetwas zu stoßen, eine Wand, eine Tür, ein Gesicht! Doch da war nichts außer diesem dichten, entsetzlichen Nichts. Er spähte weiterhin panisch in die Dunkelheit, und schließlich konnte er winzige, phosphoreszierende blaue Bläschen erkennen, die aus seinem Mund kamen – als hätte sich seine Atmung materialisiert. Er atmete ganz bewusst aus, und das Phänomen wiederholte sich: Luftblasen in allen Größen stiegen leuchtend vor ihm auf und erloschen wieder. Beunruhigt setzte Gus seine Beobachtungen fort. Ein paar Minuten später gelang es ihm, eine Art rhythmisches Pulsieren auszumachen, das kleine Entladungen in tiefdunklem Violett auszulösen schien. War dies das Herz der Finsternis? Der Gedanke ließ ihn schaudern. »Denk nicht weiter darüber nach«, sagte er sich erschrocken. »Die Finsternis hat doch kein Herz!«
Er versuchte weiter, die Dunkelheit um sich herum zu durchdringen, konnte aber nichts erkennen außer den rhythmisch vibrierenden Maserungen. Die Finsternis mochte kein Herz haben, aber sie war dennoch ziemlich lebendig. Gus beschloss, all seinen Mut zusammenzunehmen und sich zu erheben. Zwar schlotterten ihm die Knie, und seine Zähne klapperten ohne Unterlass, doch er hielt sich tapfer auf den Beinen und wagte sich tiefer ins Dunkel vor.
Nach und nach lüftete sich die Finsternis. Schlieren von Licht, die aus einem unnatürlich blasslilafarbenen Himmel kamen, durchzogen das Dunkel und tauchten den Wald, der Gus nun umgab, in dämmriges Zwielicht. Zu sehen war nichts darin. Es war, als ob jegliches Leben verschwunden wäre. Gus schüttelte den Kopf. Diese vollkommene Reglosigkeit war irritierend. Nichts bewegte sich, selbst die Luft wirkte wie Gelee. Gus riss die Augen auf. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Bedrückt ließ er sich gegen den Stamm eines riesigen Baumes sinken und stützte den Kopf in die Hände.
»Was ist bloß mit mir geschehen?«, seufzte er. Sein Herz schlug, als würde es gleich zerspringen. »Was bedeutet das alles?«
Der Junge streifte sich mit einer nervösen Geste den schwarzen Pony hinters Ohr, der ihm in die Augen hing. Er fühlte sich, als wären sein Körper und sein Geist von einer klebrigen Masse ausgefüllt, wie heißer Teer. In seinen Ohren rauschte es. Wo um alles in der Welt war er? In einer anderen Dimension? In einer Parallelwelt? In Edefia, der verlorenen Welt? Das Einzige, was er wusste, war, dass er in ein Gemälde gefallen war und dass er nicht tot war, denn sein Herz schlug wie wild.
Mehrere Minuten verstrichen – oder vielleicht Stunden, woher sollte er das wissen? –, bis er endlich etwas ruhiger wurde. Seit um Oksas Bauchnabel herum dieses geheimnisvolle Mal erschienen war, hatte sich Gus’ Leben in eine einzige Abfolge von Abenteuern verwandelt, eines unglaublicher als das andere. Ein Ansturm unerwarteter Ereignisse. Eine Flut von Geheimnissen. Und vor allem eine Lawine von Schlamasseln, die alle ein und dieselbe Ursache hatten: Orthon alias McGraw. Aber McGraw war tot. Abakum, der Feenmann, hatte ihn zu Milliarden winzigster Partikel pulverisiert, indem er das gnadenloseste aller Granuks, die Crucimaphilla, auf ihn abgeschossen hatte. Gus hatte es mit eigenen Augen gesehen.
Trotzdem war kein anderer als McGraw schuld, dass er jetzt in dieser Patsche saß. Gus erinnerte sich noch ganz genau, wie der niederträchtige Lehrer dieses vermaledeite Gemälde an die Wand gehängt hatte. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Wald. Immer noch an den mächtigen Baumstamm gelehnt, der sich der Form seines Rückens angepasst zu haben schien, betrachtete Gus den leblosen Wald um ihn her. Er hatte gigantische Ausmaße! Die schwindelerregend hohen Bäume schienen ihn von oben herab zu mustern und auf ihn herabstürzen zu wollen. Das Laub dieser Kolosse erstreckte sich viel weiter hinauf, als sein Blick reichte. Auf einmal überfiel Gus ein heilloses Schwindelgefühl, und er musste den Blick zu Boden richten. Zwischen diesen gewaltigen Gewächsen hindurch schlängelte sich ein Weg, gesäumt von Pflanzen in bizarren Formen und Farben. Gus betrachtete eine davon: ein langer, mit klebrigen Härchen bedeckter Stängel und darauf eine überladene, gedrechselte Blüte, deren glutrote Blütenblätter aussahen, als würden sie jeden Moment in Flammen aufgehen. Gleich daneben zog eine andere wundersame Pflanze Gus’ Blick auf sich.
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