Oksa Pollock. Die Entschwundenen
bedaure sehr, ihm nicht helfen zu können, aber ich muss mich verstecken, um den Schauerlichen zu entgehen. Wenn sie mich töten würden, hätte keiner von euch hier mehr eine Überlebenschance.«
»Und was soll ich in dieser ganzen Geschichte?«
»Ich fürchte, du wirst dich großen Gefahren aussetzen müssen, um in deine Welt zurückzukehren. Ein einziges Mittel besitzt die Kraft, dich zurückzubringen: der Zaubertrank. Ich lasse meinen Kundschafter bei dir«, sagte der Rabe und zeigte mit dem Schnabel auf den schwarzen Schmetterling. »Jetzt musst du los und das Heiligtum des Herz-Erforschs finden. Es ist zur Hochburg der Schauerlichen verkommen und liegt irgendwo auf dem Gebiet der Steinernen Mauer, im Innersten einer Festung, wie du und ich sie uns nicht einmal vorstellen können. Das hier wird dir helfen!«
Mit diesen Worten löste er ein winziges Fläschchen, das er um den Hals hängen hatte, und reichte es Gus mit einer seiner Krallen.
»Was ist das?«, fragte Gus, während er das Fläschchen in den Fingern drehte. »Was soll ich damit machen?«
»Wenn du es schaffst, trotz der Angriffe der Schauerlichen bis zum Herz-Erforsch vorzudringen, musst du diesen Trank, den die Alterslosen Feen hergestellt haben, benutzen. Damit kannst du das Herz-Erforsch zerstören. Ein Blutstropfen von dir, den du diesem Zaubertrank beimischst, und du entkommst dem Gemälde ein für alle Mal.«
»Aber warum zerstörst du es nicht selbst?«, fragte Gus. »Du bist doch viel mächtiger als ich!«
»Stimmt, ich bin mächtiger als du. Aber ich bin kein Mensch, und der Trank funktioniert nur in Verbindung mit menschlichem Blut. Möge das Glück mit dir sein, mein junger Freund. Bis zu unserer nächsten Begegnung …«
Der Rabe stieß noch eine letzte schwarze Rauchwolke aus und breitete dann seine weiten Schwingen aus, um davonzufliegen. Gus’ Blick folgte ihm eine Weile, bis der Vogel am blasslila Himmel zu verschwinden drohte.
»Komm zurück, bitte!«, schrie er auf einmal. »Lass mich hier nicht einfach so allein!«
Der Rabe schien seinen Flug zu verlangsamen. Dann sah Gus, wie er umkehrte und schnurstracks zu ihm zurückgeflogen kam. Mit ein paar Flügelschlägen war er wieder bei ihm und stieß ein so fürchterliches Krächzen aus, dass der Junge vor Schreck taumelte.
»Gib mir irgendwelche Hinweise!«, bettelte Gus. »Sag mir, was ich tun soll.«
»Ich habe dir schon so viel gesagt«, wandte der Rabe ein. »Und die Eingemäldung muss ihr Geheimnis bewahren. Allerdings verstehe ich sehr wohl, wie außergewöhnlich die Situation ist, und so werde ich dir noch einige Hinweise geben. Hör gut zu, denn mehr kann ich nicht für dich tun:
Der Ausweg aus dem Wald-ohne-Wiederkehr
Wird nur gefunden,
Wenn alle vom selben Ziel erfüllt sind.
Danach gebt acht,
Dass nicht die Leere das Leben verschlingt.
Ihr zu entkommen erfordert Schnelligkeit und Kraft.
Erneut erwächst Gefahr
Durch erbitterte Gewalten
Aus den Gefilden der Lüfte.
Als Nächstes folgt
Das Reich von Durst und Hitze,
Wo aus Klüften die Grausamkeit schießt.
Schließlich wird die Steinerne Mauer
Aus dem Innersten ihres Herzens
Den Weg nach draußen freigeben.
Doch hütet Euch
Vor der tödlichen Kraft der Schauerlichen:
Sie herrschen über das Leben,
Denn sie haben Macht über den Tod.
Daraufhin erhob sich der Rabe wieder in die Lüfte, ohne noch eine Antwort abzuwarten. Verstört drehte sich der Junge zu dem schwarzen Schmetterling um, um ihn zu befragen. Doch dieser war plötzlich verschwunden. Gus war allein. Er rief sich in Erinnerung, was der Rabe gesagt hatte. Wenn er aus dem Gemälde entkommen wollte, dann musste er eine unlösbar scheinende Mission erfüllen. Die Hinweise von gerade eben schienen ihm nicht besonders hilfreich zu sein, sondern ließen bloß erahnen, dass ihm ziemlich unerfreuliche Erlebnisse bevorstanden. Die Leere, die das Leben verschlingt? Erbitterte Gewalten? Die tödliche Kraft der Schauerlichen? Für solche Abenteuer war er doch gar nicht gemacht! Aber hatte er denn eine Wahl? Natürlich nicht, und das wusste er auch. Wenn er scheiterte, würden ihn die Schauerlichen verschlingen, und er wäre für immer verloren.
Wieder blickte er sich um. Unter anderen Umständen hätte er es hier faszinierend gefunden. Alles hier war so außergewöhnlich! Doch die tiefe Stille des Waldes hatte nichts Beruhigendes. Vorsichtig ging er auf das finstere Dickicht zu, sorgfältig darauf bedacht, nicht auf eine schlummernde Pflanze zu
Weitere Kostenlose Bücher