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Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Titel: Oksa Pollock. Die Entschwundenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
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ja«, bestätigte Naftali Knut, der kahlköpfige Schwede. »Aber über eine simple Gefängnisstrafe ging das weit hinaus. Die Eingemäldung ist ein mächtiger Bann, und der Vorgang ist sehr kompliziert. Dank dieser Komplexität ist sie so zuverlässig. Aus dem Grund bin ich auch mehr als erstaunt angesichts dessen, was passiert ist.«
    »Was willst du damit sagen?«, fragte Dragomira und kniff ihre blauen Augen zusammen.
    »Was ich sagen will, ist: Wenn sich ein Fehler einschleicht, wird der gesamte Vorgang sofort unterbrochen.«
    »Das heißt also, es kann gar kein Fehlurteil geben?«, fragte Oksa.
    »Nein«, antwortete Naftali mit seiner kehligen Stimme. »Aber lasst es mich erklären. Es kommt vor, dass Menschen aus Gier, aus Verzweiflung oder aus Wahnsinn ihren Mitmenschen Schlimmes zufügen. Die Gesellschaft Edefias war auf den Idealen von Gleichheit und Harmonie gegründet, die ihre Mitglieder vor solchem Fehlverhalten schützen sollten. Im Da-Draußen sind wir auf eine Welt gestoßen, in der Feindseligkeiten viel verbreiteter sind – so jedenfalls haben wir das empfunden – und in der viele ihre Freiheit für Reichtum, Ruhm oder Liebe aufs Spiel setzen. Ganz zu schweigen von den Staatschefs, die sich gegenseitig zerfleischen und für obskure politische oder religiöse Ziele ihr ganzes Volk in Gefahr bringen. Wie wenig Achtung hier dem Leben entgegengebracht wird, hat uns alle schockiert, denn in Edefia galt das Leben als das wichtigste Gut, dem alles andere untergeordnet war. Trotzdem konnte es vorkommen, dass jemand sich über diese Grundlage unserer Gesellschaftsordnung hinwegsetzte. Auch in Edefia gab es Gewalt, Verschwörungen und Mord, nur eben sehr viel seltener als im Da-Draußen.«
    »Bis zum Großen Chaos«, unterbrach ihn Oksa.
    »Stimmt«, gab Naftali zu. »Das Große Chaos entfesselte eine bis dahin ungekannte Welle der Gewalt und Brutalität, mit der wir nicht umzugehen wussten. Das war unsere größte Schwäche und der Hauptgrund für unsere Niederlage: Das Gute und die Gerechtigkeit konnten sich nicht erfolgreich gegen das Böse zur Wehr setzen.«
    Naftali schwieg eine Weile und sah auf seine zitternden Hände. Seine Frau Brune drehte nervös an einem der silbernen Ringe, die ihre langen Finger schmückten, und warf ihrem Mann einen aufmunternden Blick zu.
    »Trotz der Anstrengungen einer großen Mehrheit gab es immer auch einige Menschen, die zu Gewalt gegriffen oder sogar getötet haben.«
    »Marpel«, murmelte Oksa, »der Gonzal umgebracht hat, um ihm die Intemporentas zu stehlen …«
    »Ja, Marpel ist ein gutes Beispiel«, sagte Naftali. »Oder besser gesagt ein schlechtes. Schon als Kind hatte er eine gewalttätige Ader. Er lehnte jegliche Anstrengung ab, egal, ob es darum ging, zum Wohl der Gemeinschaft beizutragen, oder darum, für seine eigenen Bedürfnisse zu sorgen. Er erwartete, dass die anderen alles für ihn taten, ohne dass er selbst etwas leistete. Als Erwachsener fing er dann an zu stehlen, zunächst klammheimlich, später zögerte er auch nicht mehr, denen Gewalt anzutun, die ihm Widerstand leisteten. Unsere Schmuckherstellerin war eines seiner letzten Opfer, ihretwegen war er eingemäldet worden – und wäre es wahrscheinlich wegen des Mordes an dem alten Gonzal erneut, wenn die Sache aufgeklärt worden wäre. Aber das ist eine andere Geschichte … Die Eingemäldung unterscheidet sich von der Gefängnisstrafe im Da-Draußen dadurch, dass der Betroffene sich von der Welt entfernen muss, um ein besserer Mensch zu werden. In Edefia bezahlt man nicht für seine Taten: Wir denken, dass die einzig mögliche Wiedergutmachung darin besteht, zu vervollkommnen, was vervollkommnet werden kann.«
    »Und … wenn nun alles schlecht ist?«, fragte Oksa. »Wenn es überhaupt nichts Gutes gibt?«
    »Selbst der schlechteste Mensch kann sich bessern, Oksa!«, sagte Dragomira.
    Naftali und Brune betrachteten Dragomira mit unverhohlener Skepsis.
    »Ich bin nicht so idealistisch wie deine Großmutter, Oksa«, stellte Brune klar. »Aber es stimmt schon, wir in Edefia waren davon überzeugt, dass man an dem arbeiten muss, was in jedem Einzelnen mehr oder weniger angelegt ist. Dies war der Sinn und Zweck der Eingemäldung.«
    »Marpel hatte also auch Qualitäten?«, wollte Oksa wissen.
    »Natürlich!«
    »Welche denn? Hast du ein Beispiel dafür?«
    »Nein«, gab Brune zu.
    »Wie bitte? Er ist eingemäldet worden, aber du weißt nicht, inwiefern er sich dadurch gebessert hat? So ein

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