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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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den Kopf darüber, wie ich Stanislau helfen, wie ich ihn für meine Rettung entschädigen könnte. Aber schon am nächsten, ziemlich unausgeschlafenen Morgen hatte ich meine eigene Portion Lebensgift zu schlucken. Als mich Alezjas und Vaters Stimmen aus dem Bett riefen. Als ich ihre Schritte hörte, treppab, treppab, treppab.

Verlottern
    Mehr als ein Jahr war Großpapa nun schon tot, und ich hatte ihn noch immer nicht gefunden. Dafür hatte Jefim Abramawitsch aufgehört, von oben beschwörend auf meine Wachstumsregionen einzusprechen. Ich hatte quasi über Nacht optimale Sprintergröße erlangt und überragte ihn um Zentimeter. Sieben Härchen sprossen mir am Kinn und drei über der Oberlippe. Noch vor dem Frühstück, das wir vier Kinder nun immer häufiger ohne Erwachsene einnahmen (Mutter blieb tagelang im Bett), häckselte ich den Flaum mit Vaters Rasiermesser klein. Bei Tisch blutete ich voller Stolz unter den Pflastern hervor.
    »Böse Pickelchen?« fragte Tatsiana, zog Mund und Nase zu einer Schnute, die niedlich und angriffslustig zugleich aussah, und näherte ihren Zeigefinger meinem Gesicht. Ich ergriff ihn, schob ihn zurück in die demilitarisierte Zone und sagte: »Vaterländische Pflicht.«
    »Du bist ein Held!«
    »Ich weiß.«
    Nach dem Mittagessen rächte ich mich mit einem pudelnassen Waschlappen, den ich der Schlafenden aus nächster Nähe ins Gesicht klatschte. Ihr Sonnenbaden war jäh beendet, nun ging es im Schweinsgalopp über die Wiesen und durch die Maisstauden, die hinterm Haus in den Himmel schossen. Und weil ich der bessere Läufer war, arbeitete mein Tantchen mit den fieseren Tricks, warf mir Maiskolben hinterher, schnelltemir die Stengel zwischen die Beine. Bei dem sich anschließenden Ringkampf lag ich auf ihr, preßte ihre Schenkel mit meinen Knien auseinander, drückte ihre Arme zu Boden. Tatsianas Kleid war bis weit über die Taille hochgerutscht, seine Träger fielen zu beiden Seiten der Schultern herab und entblößten den lilafarbenen Halo einer Brustwarze. Beide hatten wir hochrote Köpfe, unsere Finger waren ineinander verkrampft, wir rochen des anderen Atem, und keiner wollte zuerst loslassen, es war ein Spiel, unser Spiel seit jeher.
    Es war längst kein Spiel mehr, das Großmama beobachtet hatte, und so berief sie den Familienrat ein. Wir waren zu alt für solche Spiele. Die Spiele waren zu riskant geworden. Nach diesem Ringen mußte ich mir nicht nur die grasverschmierten Ellenbogen waschen. Ich wechselte auch die Unterwäsche.
    »Verlottern« war das Wort, das Großmama gebrauchte, es gab für sie kaum ein schlimmeres: »Verlottern wird der Junge.« Verlottern, das war schon immer das Gräßlichste, was sich diese Familie überhaupt zu denken und vorzustellen vermochte. Verlottern bedeutete den Anfang vom Ende. Es hatte zu tun mit – ja, womit eigentlich? Es hatte mit so ziemlich nichts Konkretem zu tun, es war, recht besehen, sogar die Abwesenheit von allem Konkreten, und das war vielleicht das Allerschlimmste: daß die Familie zu »verlottern« nicht einmal ein passendes Bild fand. Denn das Bild des Säufers, der im Rinnstein an seiner eigenen Kotze zu ersticken drohte, taugte nicht, das ähnelte Vater zu sehr, Wochenende für Wochenende immer mehr, aber der drohte nicht zu verlottern, im Gegenteil, denn mit steigendem Wodkakonsum scheffelte er mehr und immer noch mehr Geld. Wer verlottert, wird dabei nicht reich, das war, was feststand, was feststehen mußte. Großmama grub tief in ihrem Tagebau der Tugenden. Und endlich förderte sie Begriffe zutage. Begriffe, mit deren Hilfe sie verschwieg, daß es eigentlich nur meineNeigung zu Tatsiana war, die sie als gefährlich ansah. Disziplin und Respekt, hallte es von den nackten Wänden wieder. Man müsse wenigstens versuchen, einen disziplinierten und respektvollen Sowjetbürger aus mir zu machen, der es zu einem disziplinierten und respektvollen Sowjetberuf bringen würde. Polizist. Schlafwagenschaffner. Lauftrainer.
    Mutter sagte wie immer gar nichts, sie zuckte nur hin und wieder verstohlen mit den Schultern und bemühte sich, nicht mit offenem Mund zu gähnen. Und Vater nuckelte lange an seinem gebratenen Fisch, von Zeit zu Zeit spuckte er die Gräten auf einen Teller, den er auf Kinnhöhe hob. Für ihn waren die Jahre nach dem Tod des Alten Aufbruchjahre. Endlich konnte er seinen Geschäften mit Onkel Janka in Ruhe nachgehen, ohne das unaufhörliche Dazwischenreden und den Spott des Alten. Immer wenn ich ihn fragte,

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