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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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stocksauer. Wegen seiner kleinen Schwester wollte ich mich nicht um die Möglichkeit bringen, schon zu Weihnachten ein Held zu sein. Aber Stanislau tat wie ein Erwachsener und sprach »ruhig« und »vernünftig« auf mich ein, wie es die Erwachsenen tun, wenn sie einem grundlos mal wieder allen Spaß verderben wollen. Also gab ich klein bei, sorgte nur dafür, daß wir unsere Ausrüstung nicht aufteilten, sie sollte in Großpapas Garage überwintern. Stanislau packte seine Schwester hinten aufs Rad, ich wollte unseren Krempel mit einer kleinen Handkarre nach Hause ziehen. Wir verabschiedeten uns bis morgen in die Schule. Ich winkte dem noch mehr als sonst schwankenden Zweiergespann Lebewohl, und kehrte mich, kaum waren sie außer Sichtweite, wieder dem Ufer zu. Wenn Stanislau warten wollte: bitte, aber ich würde jetzt nicht kneifen. Nicht nach all den Wochen, die ich mit Vorbereitungen zugebracht hatte, die mich den letzten Nerv und den einen oder anderen Gegenstand, der nicht wollte, wie ich wollte, das Leben gekostet hatte. Jetzt mußte es sein! Was sollte schon passieren, mir würde ein wenig kalt werden, ich hätte einen Schnupfen, und ich hätte Stanislau gezeigt, daß wir schon längst soweit waren. Man müßte endlich etwas wagen. Das war unser ganzes Problem: niemand traute sich, endlich einmal etwas zu wagen.
    Die Sonne spiegelte sich khakifarben auf der Wasseroberfläche. Hin und wieder sah man kleine Luftblasen auf ihr zerplatzen.
    Ich war erstaunt, wie leicht es ging, wie leicht es war, unter Wasser zu atmen. Daß es da einen seltsamen Druck gab auf meine Augenhöhlen, in meinen Ohren, in meinem Kopf, beachtete ich nicht angesichts der Faszination, unter Wasser atmen zu können wie ein Fisch. Und weil es überhaupt nicht dunkel war, ging ich tiefer. Und noch ein Stück tiefer. Und noch eines. Und ich dachte, ich müßte bald den Grund erreicht haben. Aber nun wurde die Sicht wirklich immer schlechter, ich tat ein paar Schwimmzüge und wirbelte dabei soviel Schmutz auf, daß ich gar nichts mehr sah. Und dann dröhnte es in meinem Kopf. Nur noch dies Dröhnen, als ob ein Unterseeboot an mir vorüberführe, rechts, links, oben, unten. Ich erschrak, versuchte mich wieder auf das Atmen zu konzentrieren. Ich mußte nach oben. Aber ich hätte nicht mehr genau angeben können, wo oben war und wo unten, weil mein Kopf zersprang und ich keine anderen Gedanken fassen konnte außer: Atmen, kein Wasser schlucken, Atmen, Atmen, Atmen. Ich tat einige kräftige Strampelbewegungen mit den Beinen, dann wurden sie hart wie nach einem langen Sprint. Wasser drückte in meinen Mund, der Hustenreflex zog noch mehr Flüssigkeit hinterher. Es war, als fiele ich kopfüber. Dann schlug etwas hart gegen meinen Schädel, ich spürte ein Ziehen an der Schulter und sah eine gewaltige Portion Licht.
    Brechreiz. Als ich mich meinem Magen hinterherkrümmte, war der Kopfschmerz so stark, daß mir die Sinne sofort wieder zu schwinden drohten. Eine Hand klatschte mir ins Gesicht. Bitte nicht mit dem Handrücken, dachte ich. Ich,der Kainssohn. Dann näherte sich Jadwihas Puppe meinen Augen, schwankte vor ihnen wie ein Besoffener hin und her.
    »Hallo«, sagte ich schwach.
    »Hallo«, antwortete die Puppe mit außerordentlich munterer Kinderstimme, »du bist nicht tot, oder?«
    »Nein, der ist nicht tot, der ist ein Idiot, aber er ist nicht tot.«
    Die Puppe streichelte mir ein wenig über die Nase, aus der noch immer Wasser lief. Es kitzelte.
    »Gott sei Dank ist er nicht tot.«
    Dann verbreitete sich der beißende Rauch einer Belamorkanal.

In dubio pro Deo
    Was mir von dem Tauchgang geblieben ist: ständig wiederkehrende Migräneanfälle. Ich kämpfte zwei Wochen lang mit den direkten Nachwirkungen. Mein Nasenbluten, meine Kopfschmerzen wurden hingenommen wie jedes andere kindliche Unwohlsein. Nur Tatsiana erzählte ich davon, bei ihr war ein Geheimnis gut aufgehoben, und im Gegensatz zu Großpapa würde sie mir auch keinen Vorwurf machen. Sie wußte, daß es meine einzige Chance war, die Welt zu entdecken, und zugleich mich dieser stumpfsinnigen Welt um mich, um uns, zu entdecken. Ihre Reaktion bestätigte lediglich ihr noch immer hellwaches medizinisches Interesse: Sie sorgte sich um meinen Geisteszustand, den nach dem Tauchgang, und so stellte sie mir hin und wieder kleine Rechenaufgaben, oder sie fragte mich Vokabeln im Deutschen ab, um die Bestätigung zu erhalten, daß mein Gehirn nicht oder nicht entscheidend gelitten hatte.
    Ich

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