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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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woher das viele Geld denn nun stamme, murmelte er irgendetwas von »Perestrojka« und zog die rechte Augenbraue hoch.
    (Ich übernahm Antwort wie Geste auf die Frage, wovon ich denn eigentlich mein Studium finanzierte – nur eine Augenbraue hochziehen, allein das zu üben hat mich Wochen gekostet).
    Wenn die Braue wieder sank, sah er mich mit einem unsteten Flackern in den Augen an. Es war dasselbe, das ich beobachtet hatte, wenn Vater und Großpapa miteinander sprachen – oder, was heißt schon »sprachen«, wenn Großpapa eine Bemerkung auf Vaters Kosten machte und der nichts zu erwidern wagte oder nichts zu erwidern in der Lage war. Dieses Flackern. Ich deutete es auf mich, deutete es als: Der Junge ist wie sein Großvater, der Junge fragt zuviel, der Junge muß weg.
    Als Vater endlich mit seinem Fisch fertig war und die fettigen Finger am Tischtuch abwischte, sagte er: »Minsk.«
    Und Großmama nickte. Und Mutter gähnte. Und ich weißnicht, ob es sich wirklich so abgespielt hat, denn ich hätte das alles, hinter der geschlossenen Tür lauschend, durch den Türschlitz spähend, mitanhören und mitansehen können, aber ich habe es nicht getan, weil ich arglos war, viel zu sehr damit beschäftigt, mich zu fragen, was ich mit den nächtlichen Träumen machen sollte, in denen mir immer häufiger Tatsiana erschien, mit halb entblößter Brust; Träumen, aus denen ich mit einem unbestimmten Gefühl der Sehnsucht und klebrigem Bettzeug erwachte; Träumen, deren Inhalt ich nicht einmal Stanislau erzählen konnte.
    Als man mir endlich mitteilte, wie meine nähere Zukunft aussehen würde, war das Internat nicht nur beschlossene Sache, alle Formalitäten waren geregelt, dank Onkel Jankas Beziehungen. Wenige Wochen später sollte ich nach Minsk. Finis comoediae.
    Ich wußte, daß es sinnlos wäre, mich allein gegen diese Entscheidung zu stemmen. Ich suchte Verbündete, doch es gab nur noch einen innerhalb der Familie. Tatsiana war nervös. Sie hatte zu rauchen begonnen, ich kann nicht sagen wann, und während wir am Polentümpel saßen und ich mich heiser redete und zugleich einen Kloß in meinem Hals spürte, brannte sie sich mit der Zigarette Mückenstiche aus, mir schien, allein zu dem Zweck, nicht zu mir aufsehen zu müssen. Als ich schließlich schwieg, gab sie sich abgeklärt und erwachsen und sprach »ruhig« und »vernünftig« auf mich ein (oh, wie sehr ich dies Erwachsentun schon immer haßte, wie sehr!). Sie suchte mir einzureden, daß ich im Grunde beneidenswert sei, daß ich endlich rauskäme, daß ich in Minsk viele Freunde finden und eine richtige Oberschule besuchen würde. Nach wenigen Sätzen hörte ich ihr gar nicht mehr zu, ich wollte weglaufen, Tatsiana versuchte mich aufzuhalten, aber sie bekam nur noch die Manschette meines Hemds zu fassen, das unter der Spannung zerriß.
    Ärmel- und fassungslos nahm ich Abschied von Stanislau, der mich beschwor, keinen Unsinn zu machen und ihm zu schreiben. Wir gaben einander die Hand, wie zwei alte Bekannte, die sich wunderten, daß das jetzt alles gewesen sein soll. Ich spürte einen kleinen Brief in meinen Fingern.
    »Lies ihn erst dort«, sagte Stanislau.
    Der Abschied von meiner Familie, nachdem ich tagelang mein Zimmer nur noch in den nötigsten Fällen verlassen hatte: Marya, auf Großmamas Armen, noch keine zwei Jahre alt, leise vor sich hinplappernd, starrte mich mit tiefem Blick an, ihre Karyatide sah mir nicht in die Augen, Tatsiana sah mir nicht in die Augen. Auf Vaters Frage, ob sie nicht mitkommen wolle, mich auf den Bahnhof nach Hrodna zu bringen (eigentlich hatte ich erwartet, meine Eltern würden mir das Fahrtgeld in die Hand drücken und mich zur städtischen Busstation schicken, »Den Weg kennst du ja, und trödel nicht rum«), behauptete ich, ich hätte Alezja versprochen, sie könne mitfahren. Deren Gesicht hellte sich plötzlich auf. Ich kämpfte mit den Tränen.
    »Und daß du uns keine Schande machst!« sagte Vater auf dem Bahnsteig, auf dem wir eine geschlagene Stunde standen, weil wir natürlich viel zu früh dran waren. Immer wieder sagte er es und klopfte mir bei jedem zweiten Wort zur Betonung vehement auf die rechte Schulter, ich hatte schon Angst, ich würde mit blauem Fleck und Haltungsschaden im Internat einlaufen. Mutter seufzte und weinte und sagte wie immer gar nichts. Als der Zug einfuhr, drückte mir Alezja einen festen Kuß, der nach Kakao schmeckte, auf den Mund, und verlangte, ich solle ihr etwas Schönes aus Minsk

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