Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
sprach: Mensch, ich bin’s nicht. Und über eine Weile bekräftigte es ein anderer und sprach: Wahrlich dieser war auch mit ihm. Petrus aber sprach: Mensch, ich weiß nicht, was du sagst. Und alsbald, als er noch redete, krähte der Hahn. Und der Herr wandte sich um und sah Petrus an. Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.
Darunter gekritzelt fand ich folgende Worte:
Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist. Ein geängstet und zerschlagen Herz wirst du, Gott, nicht verachten.
Kackruß, katholischer. Stanislau hatte nichts Besseres zu tun, als mich im Internat zu missionieren, als mich mit seinen blöden alten Geschichten zu langweilen; mich, nicht in mythischer Vorzeit, sondern hier und heute verlassen und verraten, von Tanja, dem einzigen Menschen, an den ich bereits mit einer Mischung von Lust und Liebe gedacht hatte und von nun an nur noch mit einer von Rache und Schmerz würde denken können. Die Bilder, die Nacht um Nacht herandrängten und die ich nicht wegträumen konnte und auch nicht wegschrubben, die Bilder von Tanjas halb entblößten Brüsten unter mir, über mir, neben mir im Bett, machten alles nur noch schlimmer. Ich war vertrieben von den Meinigen, weggestoßen von meinem Tantchen. Dort, wo mein Leben war, war plötzlich ein Loch, eines, das ich nicht einmal dazu benutzen konnte, um meinen Start zu trainieren. Aber ein Loch, das sich nicht zuschütten ließ und sich auch sonst für nichts eignete, war wertlos.
Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.
Hoffentlich!, dachte ich, hoffentlich weint sie bitterlich. Wenigstens das.
Wunden lecken. Der Drill in den Schulstunden, das Aufstehen, Strammstehen, Aufsagen, Hinsetzen, die Schuluniform in blauer, die Schulbedienstetenuniform in grauer Farbe, die Ranghöchsten tragen eine Mütze mit gewaltigem schwarzenSchirm. Das ist die Sowjetunion, unken wir: Jeder Deckel findet seine Flasche.
Wenn ein Pfiff ertönt, stehen wir und starren. Erst auf die leeren Tischbänke. Dann auf die leeren oder schon zur Hälfte mit Reis oder Salat gefüllten Teller. Als sei von hier, von diesem fast jungfräulichen Porzellanimitat, eine neue Offenbarung zu erwarten. Oder wenigstens ein Wort. Hundert junge Menschen und doch kein Wort. Wir setzen uns.
Bei meinem Gegenüber hebt sich der Hemdkragen auch nicht einen Millimeter über das Revers des Uniformjacketts. Er trägt eine tonnenschwer aussehende Brille auf der feingeschnittenen Nase und bearbeitet seine Kost mit so exakten Messerstrichen und Gabelstichen, daß ich, schier verzweifelnd ob der Zähigkeit des Fleischklumpens vor mir, mich fühle wie ein Holzfäller. Oder ein dreister alter Fleischer auf Stadturlaub.
Der Junge links neben mir hält seine Glieder kaum in Zaum. Alles an ihm ist Bewegung und Länge, diese Extremitäten wollen beschäftigt sein. Rechts verbirgt einer seinen ersten sprießenden Oberlippenbart hinter einer Hand, in die er zugleich den Kopf gestützt hält. Er stochert im Reis. Was nicht von selbst auf die Gabel spaziert, hat es nicht verdient, unter dem Bärtchen, in seinem Mund zu landen.
Wenn ein Pfiff ertönt, rasseln wir auf und sehen zu Boden, dorthin, woher die neue Offenbarung ihren Ausgang nehmen soll. Aber es tut sich nichts, nichts als ein schwaches Stimmchen hinter mir, das sich nur wenig über die verlorenen Essensreste erhebt und Aufmerksamkeit einfordert für den Wochenplan. Dann fliehen alle der Tür zu. Wie gern setzte ich mich wieder und kämpfte weiter mit meinem Klumpen. Der Fleischer in mir hat sein Pensum noch nicht geschafft. Und seine Heimat ist weit.
Heimweh ist mein großväterliches Erbe.
Um es zu betäuben, begann ich zu lesen. Bis zu diesem Moment hatte ich gelebt wie ein Analphabet. Jetzt war es wie ein Rausch. Ich las rascher, vehementer und radikaler als alle anderen. Meine ersten Gefährten hießen Majakowskij und Rimbaud. » Ein Mensch, der sich verstümmeln will, ist doch verdammt, oder? « Die Bücher waren Leihgaben meines Zimmergenossen Trafim. Rimbaud, erklärte Trafim, dessen Vater einst ein landesweit berühmter Literaturwissenschaftler gewesen war, bevor er auch für die Universität die Perestrojka forderte und nun lediglich Typoskripte nach ihrer Größe sortierte, Rimbaud war ein in der Sowjetunion geduldeter Bourgeois, weil er auf den Barrikaden gekämpft hatte, als die Herren auf die Knechte schießen ließen, 1871. Anderes Gedankengut, das als »bourgeois« eingestuft war, war schwerer zu bekommen, die
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