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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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Heftigkeit, mit der sie diesmal auftraten, alarmierte die Familie. Ich sah Stanislau auf seinem Fahrrad an unserem Haus in die eine, dann, eine halbe Stunde später, einen Arztwagen in die entgegengesetzte Richtung jagen. Einen Tag später war Jadwiha tot. Multiples Organversagen. Irgendwie liege es in der Familie. Sagten die Ärzte.
    Der Lebenstüchtige war er, er mußte es sein, den trostlosen Eltern eine Stütze, noch mehr die Stütze seiner selbst. Stanislau begann, sich selbst neu zu erfinden, jetzt, da er weiterleben mußte, da er die Aufgabe und Verpflichtung hatte, an seiner Schwester statt weiterzuleben, nachdem er sich als unfähig erwiesen hatte, Verantwortung für die Kleine zu tragen, die noch leben könnte, hätte er nur auf sie aufgepaßt, hätte er sich nur rechtzeitig selbst geopfert, diese ganze Skala an Schmerzgedanken eben, Töne rauf, Töne runter.
    Einige Zeit nach Jadwihas Tod bekamen Stanislaus Eltern Besuch von einem Verwandten aus Moskau. Er hatte Karriere in der Partei gemacht, war ein Anhänger Gorbatschows, raunte, hinter vorgehaltener Hand habe er von einer ziemlich unguten Sache erfahren, die in Tschernobyl passiert sei. Wir rätselten. Was war Tschernobyl? Großpapa schlug im Atlas nach und fand eine gleichnamige Stadt in der Ukraine. Und Stanislau gab weiter, was er zuhause gehört hatte: daß da, in der Nähe von Homyel, irgendetwas passiert sei mit Atomen. Großpapa bat ihn, nicht weiter zu schwatzen, von Atomen verstünden wir nichts. Trink, und laß es nicht wiederkommen.
    Auch mit Atomen mochte etwas passiert sein, ja, aber was hauptsächlich passierte, war, daß Stanislau erst jetzt erfuhr, daß wir alle erst jetzt erfuhren, was sich am Südostrand von Belarus wirklich abgespielt hatte. Mit seiner verhinderten Opferbereitschaft und der ganzen Zähigkeit seines Langläuferlebens durchstöberte Stanislau die Bibliotheken in Hrodna nach Büchern über Radioaktivität, über Spätfolgen radioaktiver Strahlung, über Leukämie und Schilddrüsenkrebs und multiples Organversagen. Und begann, nicht nur sich selbst, sondern auch dem System die Schuld an Jadwihas Tod zu geben; dem System, das die Bevölkerung nicht unterrichtet hatte, das uns Tag für Tag mit dem Wind aus Südost im Rücken in die Schule gehen, uns ins stille Verderben rennen ließ. Sonst hätten wir das Gemüse aus dem Garten und die Pilze aus dem Wald doch nicht gegessen. Sonst wäre Stanislau mit der kleinen Jadwiha doch nicht so oft nach draußen zum Spielen gegangen, um sie mit Sand zu bedecken, bis nur noch die Arme hervorlugten, die Agata hielten, und das schmale Kindergesicht, das stundenlang gluckste und strahlte, strahlte, strahlte.
    Noch wollte niemand so recht auf Stanislau hören, schon gar nicht seine Eltern, die im frühen Tod der Tochter nichts als eine Strafe Gottes für ihre eigenen Verfehlungen sahen. Und im Grunde seines Herzens glaubte auch Stanislau, daß das Gerede über den »nuklearen Genozid«, das endlich im ganzen Land laut wurde, nichts als eine Ausrede für sein Versagen als großer Bruder war. Stanislau war verzweifelt bemüht, seinen Eltern alles recht zu machen und für zwei Kinder zu leben, aber was er auch tat, es war nicht gut genug. Eines Nachmittags kehrten wir vom Lauftraining zurück. Vor dem Block, in dem Stanislau lebte, erwartete uns seine Mutter, die uns mit Stirnrunzeln begrüßte. Sie fragte, ob er daran gedacht habe,zu Kaslou zu gehen, Milch und Eier mitzubringen. Stanislau schlug sich vor die Stirn, er ließ seine Tasche fallen, wollte auf der Stelle kehrt machen, da hörte ich seine Mutter mit vor Enttäuschung und Lebensüberdruß dünner Stimme sagen:
    »Ach, laß.«
    Nicht mehr als dies: Laß, bevor sie sich selbst, wie schicksalsergeben, auf den Weg machte. Laß, schien sie zu sagen, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Laß, schien sie zu sagen, hättest nicht du an ihrer Stelle sterben können. Laß, von dir erwarten wir nichts anderes, wie solltest du an Milch und Eier denken, du hast ja nicht einmal an deine Schwester gedacht. Und hätte Stanislau an Milch und Eier gedacht, wäre es kaum anders gewesen: Laß, du kannst an Milch und Eier denken, nicht aber an deine Schwester.
    Stanislau war vernichtet. Ich versuchte ihn zu trösten, aber es gelang mir nicht. Selbst als ich ihn daran erinnerte, daß er mir das Leben gerettet hatte, fand ich keinen Widerhall, keinen Anklang, drang nicht zu ihm durch. Nach dieser Szene lag ich die halbe Nacht wach und zerbrach mir

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