Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
gemalt hatte). Hätte Großmama davon Wind bekommen, das Verdikt wäre gesprochen, der Scheiterhaufen für ihren Ältesten längst entfacht. Sicher war sie ahnungslos, ähnlich ahnungslos wie Mutter.
»Von wegen«, lachte Alezja. Es war ein Lachen, das Empörung war, eines, das sich nicht anders zu entladen wußte. Erstim Beben der Nüstern, im Hochziehen der Augenbrauen sah, hörte, bemerkte ich, was dahinter verborgen lag. Wir lungerten am Polentümpel, der Abend war weit vorgeschritten, ich sah ihr dabei zu, wie sie eine Zigarette nach der anderen rauchte – »hilft sensationell beim Abnehmen« –, und sie mir, wie ich einen Stein nach dem anderen auf der Wasseroberfläche tanzen ließ.
»Von wegen! Kaum hatte die Mamuschka im Internat angerufen, da kam auch schon Onkel Janka. Stundenlang haben sie den Keller durchstöbert. Danach war alles leer.«
Ich überlegte.
»Wahrscheinlich wollten sie die Kohle vor der Miliz verstecken.«
Alezja lachte lauter, explosionsartig.
»Ja natürlich. Vor der Miliz.«
Sie schnippte ihre letzte Zigarette in den Tümpel, dann stand sie auf, tippte mir mit dem Zeigefinger liebevoll gegen die Stirn, und sagte:
»Oder vor dir, mein Trottelchen.«
Alezja ging. Der Tag der Beerdigung kam. Es war windig geworden, südliche Böen, die Krawatten flatterten und die Röcke, der Priester hatte Mühe, seine Worte vor der Brise zu bergen, und, wenn ich recht verstand, entblödete er sich nicht, »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt« zum Motto der Grablege zu wählen.
Stanislaus Haar war so wenig militärisch kurz wie meines. Als wir die Leichen begossen, fiel es ihm wirr ins Gesicht, von Zeit zu Zeit strich er sich eine Strähne hinter die Ohren. Wir sprachen über Minsk, wohin er zum Studium ging, was bedeutet hatte, an der rechten Stelle die rechte Summe springen zu lassen. In der Hauptstadt zu studieren war ein Privileg, das nur Eliten zukam, Geisteseliten und Geldeliten.
Stanislau war elektrisiert, es schien, als hätte er jetzt, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Rechnung mit den alten Machthabern beglichen. Nicht für sich. Aber für Jadwiha. Und könne und wolle nun neu beginnen. Politische Historie schwebte ihm vor, aber er konnte sich auch vorstellen, Belorussistik zu studieren. Oder Erwachsenenpädagogik. Oder am besten alles durcheinander.
»Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, frag, was du für dein Land tun kannst«, zitierte er. Es klang wie der Spruch einer Werbung für Erfrischungsgetränke.
Die Sowjetunion war endgültig von den Landkarten verschwunden. Große Ereignisse werfen ihre Schatten meist hinterher. Dann heißt es, rechtzeitig zur Seite springen.
Man nannte es wieder Belarus. Unser Land war unabhängig geworden. Manche behaupteten sogar, es sei jetzt »frei«, aber das war nur der übliche Irrtum des Sowjetmenschen, der das Wort Freiheit traditionell mit weniger Übung buchstabiert als die Worte Mutter, Liebe oder Schnaps, und schlicht nicht versteht, daß wir nur die kommunistische mit der kapitalistischen Knute vertauschen sollten. Früher krochen wir den Sowjets, heute kriechen wir dem lieben Geld in den Arsch, hätte Großpapa gesagt.
»Keine Russen mehr, endlich sind wir unseren großen Bruder los«, jubelte Stanislau.
Ich blieb skeptisch. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß wir mit dieser Unabhängigkeit etwas anfangen konnten. Zumal es andersrum war: Der große Bruder hatte sich uns vom Leib geschafft. Aus dem gemeinsamen Haus hatte er uns geworfen, bei klirrender Kälte, und dabei mit ganz unschuldigem Gesicht erklärt, wir dürften jetzt auf eigenen Beinen stehen, und zu eigenen Beinen paßten frische Luft und ein Wanderstab eben besser als ein riesengroßes Haus mit wohlig warmem Herd.
Stanislau gab mir die Hand, noch immer mehr vom Feuer des Neubeginns als von dem des Wodkas durchwärmt, er gab mir die Hand und sagte:
»Wir sehen uns ins Minsk.«
»Vielleicht.«
»Ganz bestimmt.«
»Früher oder später.«
»Ganz bestimmt.«
Ich konnte nicht schlafen, obwohl die Eltern jetzt aus dem Haus waren, obwohl ich nicht mehr um sie herumtanzen mußte in der Küche, und diese nächtliche Begegnung mit Tanja sicher keine weitere nach sich ziehen würde. Ich weiß nicht, was in diesen Tagen alles Besitz von meinem Hirn ergreifen wollte, es war, als hätte man mich eingesperrt in einem Elektronen-Beschleuniger, der ungeheure Energiesummen durch meinen Körper schickte. Ich zog
Weitere Kostenlose Bücher