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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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krümmte mich so effektvoll, daß mir Großmama einen heiligen Blick zufunkelte, und Alezja, die ein wildes Gelächter angestimmt hatte, verpaßte sie eine Ohrfeige, bevor sie sie aus dem Zimmer jagte. Ich hörte sie draußen weiterlachen. In den darauffolgenden Wochen sorgte Großmama dafür, daß Marya niemals allein mit Alezja oder mir das Zimmer teilte.
    Großmama und ich mieden einander. Sie mich wie den Hort einer infektiösen Haut-, ich sie wie den einer infektiösen Hirnkrankheit. Großmama war hart geworden, eine strenge alte Frau, die nichts preisgab, schon gar nicht mir, Großpapas Liebling. Nach der Geburt von Marya hatte ihre Nierentuberkulose begonnen, wenig darauf entwickelte sie einen fanatischen Katholizismus, sprach davon, daß ihre Krankheit eine Strafe Gottes dafür war, daß sie in ihrem Alter noch ein Kind bekommen hatte. Ich dachte, vielleicht liege es an der fehlenden Niere, eine Harn-, eine Hirn-, eine Harnhirnvergiftung. Und hoffte, mit besserer medizinischer Grundversorgung würden sich auch diese Anfälle religiöser Demenz wieder geben.
    Einstweilen mußte ich versuchen, es mit dieser Betschwester, meinem Petrus und zwei Toten in unserem Haus aufzunehmen. Als ich nachts nicht einschlafen konnte und beschloß, mir eine Milch in der Küche warm zu machen, rumpelte ich auf dem Weg zwischen Kühlschrank und Herd ein ums andere Mal gegen Vaters Leichnam. Er fühlte sich merkwürdig weich an. Auf seinem Gesicht lag eine Friedfertigkeit, die ich nicht an ihm gekannt hatte. Nur Mutters Züge waren verzerrt, die Längsfalten um ihren Mund gaben ihr das Aussehen einer Greisin, sie waren so tief, diese Falten, tief und doch gefüllt mit Vorwürfen. Ich nahm ein Geschirrtuch und legte es ihr aufs Gesicht. Die Milch kochte über, ich fluchte leise, das Gefühl, beobachtet zu werden ließ mich aufblicken.
    Ich sah Tanja in der Tür stehen, mit offenem Haar. Sie trug ein pfirsichfarbenes Nachthemd, kratzte sich abwechselnd mit der rechten Hand am linken Arm und mit dem linken Fuß am rechten Bein.
    »Hey«, sagte sie.
    »Hey.«
    »Ich hab Geräusche gehört, ich dachte, die Mamuschka würde beten. Die erste Nacht hat sie kniend vor den Toten verbracht.«
    Ich nickte.
    »Angenehmer Zeitvertreib.«
    »Was tust du?« fragte Tanja und kam zögerlich näher. »Wonach sieht’s aus?«
    »Nach Abschiednehmen.«
    »Mit einer Tasse warmer Milch in der Hand? Klar. Soll ich mich auch hinknien? Ich könnte die Milch auf dem Kopf balancieren wie Vater seine Bierflaschen.«
    »Und was soll das Geschirrtuch?«
    »Gekleckert.«
    Tanjas Wangenmuskeln mahlten.
    »Nimm es weg, das regt die Mamuschka nur auf.«
    Ich zog es, Millimeter für Millimeter zunächst, dann mit einem Ruck von Mutters Nase.
    »Mist, wieder kein Kaninchen.«
    Tanja schien wirklich zu trauern. Ich wußte nicht, ob um ihren Bruder oder um mich. Doch sie spürte, daß sich mein Bedarf nach Aussprache in Grenzen hielt. Zögerlich sagte sie:
    »Wasja …?«
    Ich hielt ihr auffordernd die Tasse mit der Milch hin. Sie schüttelte den Kopf.
    »Nein … es ist nur … das da ist dein Vater, da, auf dem Tisch. Und das deine Mutter.«
    »Da sagst du was! Eine gewisse Familienähnlichkeit …«
    Ich blieb allein mit meiner erkaltenden Milch, auf der sich eine Haut zu bilden begann.
    Ich hasse Milchhaut.
    Den Tag verschlief ich. Abends bemühte ich mich, rasch aus dem Haus zu kommen. Die Beerdigung war auf den nächsten Morgen angesetzt, ein wenig Zeit würde ich hier also noch verbringen müssen, dann läge es an mir, meine neugewonnene Freiheit zu nutzen. Es gab niemanden mehr, der mir Vorschriften machen konnte. Niemand würde mich noch einmal, über meinen Kopf hinweg, irgendwo hinschicken.
    Pläne? Nein, Pläne hatte ich keine. Nur vage Ideen. Die Zeit meiner Viererbande im Internat schien mit einem Mal weit weg. Kein Studium in Minsk. Das wußte ich. Mehr wußte ich nicht.
    Einstweilen spekulierte ich auf Vaters Geldversteck im Keller, das die Polizei übersehen hatte. Oder übersehen wollte. Alezja war sich sicher, daß Vater sich umgebracht hatte, weil seine Geschäfte aufzufliegen drohten. Offenbar handelte es sich nicht nur um die Perestrojka, die ihm diese Devisen eingetragen hatte. Der Ikonenschmuggel mit dem Westen florierte, die Deutschen waren verrückt nach allem, was auch nur andeutungsweise nach Heiliger Familie aussah (auch wenn die meisten Bilder wohl Fälschungen waren und das einzig alte an ihnen das wurmstichige Holz war, auf das man sie

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