Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Andromedanebels auf uns zu.«
Pause, wir bekamen ihn wieder zu fassen.
»Mit 500 Kilometern in der Stunde. Oder in der Sekunde. Das habe ich vergessen.«
Pause.
»Das wird eine Scheißexplosion geben! Alles Scheißleben wird erlöschen. Wir werden alle sterben!«
Pause.
»In fünf Milliarden Jahren.«
»Bitter«, sagte Trafim und hielt Sjarhej eine Wodkaflasche vor, »aber Zeit, einen davor zu nehmen, haben wir noch, oder?«
»Sicher.«
Es war, als hätte man dem Maultier eine Karotte vorgehalten, Sjarhej ließ sich von der Flasche ziehen. Er trank wieder.
»Aber schade ist das trotzdem«, endete er seinen Gedanken, kaum hatte er den Wodka abgesetzt. Dann sah er mich an, zog mein Gesicht ganz nah an seines, ich konnte den Fusel- und Salzgurkenatem riechen, er drückte mir einen Schmatz auf die linke, auf die rechte Wange, dann grinste er und sagte mit versagender Stimme:
»Jetzt hab ich die Wette doch gewonnen.«
Ich spürte, wie er sich, verzweifelt um Gleichgewicht bemüht, an meinem Revers festhielt und auf Antwort wartete.
Ich dachte nach. Ich mußte zugeben: Ich hatte ihn die ganze Zeit unterschätzt.
»Remis«, sagte ich.
Sjarhej lachte aus vollem Hals.
Nach einer Viertelstunde hatten wir erst fünfzig Schritte zurückgelegt, immerhin waren wir im Haus angekommen. Nur noch drei Gänge und zwei Etagen. Ich konzentrierte mich darauf, ein Gegengewicht für Sjarhejs konzentrisches Kreisen zu bilden, als ich die Stimme eines Aufsehers hörte.
»Wasilij Nikalajewitsch. Auf ein Wort.«Ich ließ Trafim mit seiner Trophäe allein ziehen, wankte zum Mützenmann und stand geziert stramm. Wir mußten keine Angst mehr vor Disziplinierungsstrafen haben. Die Aufsicht sah an mir vorbei zur Wand, dann sagte er leise:
»Wasilij Nikalajewitsch, deine Großmutter hat angerufen. Du sollst nach Hause kommen.«
»Na klar, zu Befehl, in einer Woche, ja, in einer Woche bin ich doch eh wieder zu Hause. Was auch immer das sein mag: Ssu-chau-sse.«
»Nein«, sagte der Aufseher, nahm die Mütze vom Kopf und kratzte sich den Scheitel zurecht, »nein, sofort, du mußt sofort weg. Das Erziehungskollektiv hat dich freigestellt. Deine Großmutter hat geweint am Telefon. Du mußt nach Hause, Wasilij Nikalajewitsch, nach Hause.«
Der Tod kocht Erbsen und Kohl
Noch nie hatte ich Großmama weinen sehen. Auch nicht bei Großpapas Tod. Als ich zu Hause eintraf, erwartete mich Alezja auf der Türschwelle, eine Teetasse in der einen, eine Zigarette in der anderen Hand. Ich erkannte sie kaum wieder, in den letzten Monaten mußte sie dreißig Pfund abgenommen haben. Und sie hatte mit dem Rauchen begonnen. Sie nahm einen letzten Zug, dann drückte sie die Zigarette am Türpfosten aus und machte eine kleine Bewegung mit dem Kopf, ich sollte folgen. Drinnen, in der Küche, kein anderes Zimmer war groß genug, hatten sie Vater und Mutter aufgebahrt. Es roch nach Erbsen und Kohl. Der Tod kocht Erbsen und Kohl, dachte ich.
Mein Vater wurde zweiunddreißig Jahre alt. Zweiunddreißig. Nur um ein weniges älter als ich jetzt.
Die Männer, die jung starben. Sie haben ihr Leben rasch in ihre Frauen gespritzt, rasch und gänzlich, bis nichts mehr davon übrig war und sie ihre Leere mit Alkohol füllten, bis nichts mehr von ihnen übrig war und sie zu den Fischen gehen konnten.
Und die Frauen? Waren blöd genug oder hatten einfach das Pech, neben solchen Männern zu leben. Oder neben ihnen zu sterben. Wie Mutter.
Sie waren auf dem Weg nach Hrodna gewesen, ein Samstag, ein Tag wie jeder andere, ein Wetter wie jedes andere. Vater kam auf kerzengerader Strecke von der Fahrbahn ab, es gabkeinen anderen Wagen, der sie touchiert hätte. Die Motorhaube wickelte sich um einen Baum, wahrscheinlich eine Birke.
Noch vor einer Woche hatte Vater das Auto reparieren lassen. Er war besoffen, wie immer, wenn er hinterm Steuer saß, ein Tag wie jeder andere. Ich glaube nicht, daß er ohne Alkohol überhaupt in der Lage war, ein Fahrzeug zu beherrschen. Diesmal hatte er soviel im Blut, daß ein Arzt den Polizisten sagte: Selbst wenn er den Unfall überlebt hätte, die Vergiftung hätte er nicht überlebt. Ebensowenig wie Mutter die Schachtel Schlaftabletten.
Exhumierung einer Seele. 1. Teil: Mein Vater.
Jahrelang hatte er von nichts anderem geträumt als davon, nichts mehr zu träumen. Er wollte nicht nur nicht mehr in Hrodna, in der Stahlgießerei arbeiten. Seine Vorstellungen vom Himmel auf Erden waren denkbar einfach: Im Keller sitzen und langsam aber
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