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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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sie endlich nachließen, schlief ich noch immer nicht, ich tauchte, tauchte immer tiefer, tiefer und tiefer, ich konnte nicht atmen, ich mußte meine Tauchermaske vergessen haben und mein Atemgerät, der Druck auf die Schläfen war unerträglich, ich tauchte und tauchte und tauchte, ohne zu atmen, und dann sah ich eine Höhle vor mir, einen Karstgang, das Wasser wurde wärmer, und ich schwamm hinein.
    Ich war siebzehn Jahre alt. Ich war frei. Und das Land meiner Geburt hatte aufgehört zu existieren.

Der Fliegenfänger von Budapest
    Zweierlei stand vor der Ausreise nach Ungarn auf meiner Liste:
    1. Musterung
    2. Aufenthaltsgenehmigung
    Item:
    Die Zeiten waren danach, das Militär mußte sich eine neue Ordnung geben, ich fiel durchs Raster. »Herzschwäche« stand auf dem in allen vier Ecken gestempelten Blatt. Ich hatte die Devisen. Noch nie bekam einer so schnell einen Ausmusterungsbescheid.
    Item:
    »Jetzt wird hier endlich unsere Sprache gesprochen«, sagte der Typ auf dem Paßamt in einem anbiedernd klingenden Weißrussisch, das den Befehlston, der noch gestern hier geherrscht hatte, kaum verbarg.
    »Und da kommen Sie daher, ein junger Mensch, und wollen weg. Sie können doch nicht einfach weggehen von hier, ausgerechnet jetzt, das junge Land braucht junge Leute wie Sie.«
    Als er ein wenig zur Seite rückte, sah ich, daß das obligatorische Bild mit dem Konterfei des Staatspräsidenten hinter ihm leer war. Kein Gorbatschow, kein gar nichts. Sie trauten dem Braten noch nicht.
    Ich hatte keine Lust auf die unerwartete Komplizenschaftmit einem Uniformierten vom OWIR, der Registrierungsbehörde, und wechselte ins Russische.
    »Ich höre immer ›jung‹. Ich dachte, die Leier von der sozialistischen Jugend sei abgespielt. Ich kann gar nicht sagen, wie alt ich mich fühle. Hier, fassen Sie mal meinen Arm an, fühlt sich das etwa an wie ein junger Arm? Ein Tschernobyl-Arm ist das, ein beschissener verstrahlter Tschernobyl-Arm. Und ich bin auch kein Hiesiger, nein, ich bin eigentlich ganz und gar nicht von hier.«
    »Soso? Ab nach Moskau? Fahnenflucht, was?«
    »Moskau …! Der große Bruder kann mich mitsamt meinen übrigen Verwandten gern haben! Ab nach Ungarn, ein Nomadenreiter, das ist, was ich bin. Ich will in den Süden, dorthin, wo es warm ist, wo Flüsse fließen, und nicht strahlen und verklumpen.«
    Dann verlangte ich, einen jüngeren Kollegen zu sprechen. Ich hatte einen Kontaktmann. Ich hatte die Devisen. Noch nie bekam einer so schnell einen Ausreisestempel in seinen Paß.
    Als der Zug einfuhr, drückte mir Alezja einen festen Kuß, der nach Zigaretten schmeckte, auf den Mund und verlangte, ich solle ihr etwas Schönes aus Bukarest mitbringen. Sollte ich es bis Bukarest schaffen, beschloß ich, ihr etwas mitzubringen, schließlich hatte sie mich schon zum zweiten Mal in einen neuen Lebensabschnitt verabschiedet, während meine Restfamilie nur sprach- und fassungslos meinem Treiben zusah.
    Ich kehrte zurück zu Großpapa, in Großpapas Land. Wie meine Landsleute: Alle kehrten wir zurück zu unseren Großvätern. Nur daß die anderen Belarussen das Land nie verließen, es kam einfach zu ihnen. Es kam über sie. Und die meisten hatten es nicht einmal gewollt.
    Jede Minute meiner Zugfahrt genoß ich, selbst den stundenlangenAufenthalt in den Umspurhallen des Brester Bahnhofs, das Rangieren zwischen Sonne und funzeliger Hallenbeleuchtung, um den Zug zu »verwestlichen«, zumindest in seiner Spurweite. Ich kaufte selbstgemachte Bliny von fliegenden Händlerinnen. Die schrillen Schläge, die das Hämmern von Stahl auf Stahl erzeugte: Sie wurden zur Fanfare für meinen Aufbruch. Zum ersten Mal in meinem Leben verließ ich mein Land. Vielleicht wäre es das erste und letzte Mal, darüber hatte ich mir wenig Gedanken gemacht.
    Kopfüber fiel ich. In die neue Stadt. Ich wußte nicht einmal, wo ich in Budapest übernachten würde. Im Zweifelsfall in einem feinen Hotel. Das Geld dafür hatte ich.
    Als ich die ungarische Hauptstadt erreichte, war es tiefe Nacht. Als ich sie wieder verließ, war es tiefe Nacht. Zwischen jener Nacht und dieser lagen tausendundeine Nacht. Tausendundeine Nacht in meinem neuen Reich.
    Rasch bezog ich Quartier nahe der Burg von Buda. Und scheute es, hinunter nach Pest zu gehen. Ich mochte Pest und sein Gewimmel nicht, und ich fluchte dem Tag, da man beschlossen hatte, es zum staubigen Mittelpunkt zu machen. Wenn er gewollt hätte, daß aus Buda und Pest eine Stadt wird, hätte Gott nicht die

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