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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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hätte wenigstens kurzzeitig ihre Aufmerksamkeit erregt. Aber Stas hatte alles in Bewegung gesetzt, mit diesem Stipendium seine Eltern zu entlasten. Seine Eltern, die von dieser Entlastung nicht mehr wußten als vom Kreisen zweier Fliegen vor dem gerahmten Bild von Jadwiha, das über dem Ehebett thronte. Noch immer mit Trauerschleife (ausgeblichen) am rechten unteren Bildrand.
    Stanislau brachte den Tee, setzte sich mir gegenüber. Er hatte stets Papier um sich, hatte so viel mit Papier zu tun, daß an den Ärmeln seiner Pullover Papierfetzen und Stanzungen von Lochern hängenblieben, die er beim Gehen verlor, so wie andere Hautschuppen verlieren. Er brachte das Feuerzeug in Anschlag, zündete die Zigarette aber noch nicht an. Stattdessen musterte er mich lange. Dann sprach er mir von seiner amour fou.
    »Die Sache ist die, Wasja: Wenn der Präsident das Referendum durchkriegt und wir eine neue Verfassung bekommen, war’s das mit der Demokratie. Endgültig.«
    Ich lehnte mich zurück, atmete mit einem leisen Knurren aus. »Ich denke, wir waren uns darüber einig, daß ich kein Demokrat bin.«
    »Ich denke, wir sind uns darüber einig, daß du kein Fan des Herrn Präsidenten bist. Das genügt mir zu wissen. Nein? Dann blöke, Wasja, blöke!«
    Ich schwieg.
    »Eine Verfassungsänderung wird dafür sorgen, daß alle Macht auf unbegrenzte Zeit bei ihm liegt. Er ernennt und entläßt den Premierminister, er beruft die Vorsitzenden des obersten Gerichts und des Verfassungsgerichts, außerdem alle anderen Richter in Belarus. Das ist dann keine Gewaltenteilung mehr, sondern ungeteilte Gewalt.«
    »Und was willst du dagegen tun? Mit ein paar Transparenten winken?«
    »Hast du eine bessere Idee? Möchtest du lieber zuschauen?«
    »Ach, das hat doch keinen Unterhaltungswert.«
    Stanislau brach seine Zigarette in der Mitte durch. Ich glaubte, ein Zähneknirschen zu hören.
    »Verlorene Generation nennt man uns. Wir haben uns verloren an Musiksender und Daily Soaps, an den Hypermarket im Außenbezirk und die Schnellfresse in der Innenstadt. Und du, du bist auch nur wie alle hier, Wasja, du suchst dein Heil in deinem ›Privatleben‹.«
    Ich lachte, ließ mich in den Ohrensessel seiner Vermieterin zurückfallen, sah mich um. In einem Regal, das windschief über der Tür hing, saß Agata, Jadwihas alte Stoffpuppe, die mich ins Leben zurückgekitzelt hatte.
    »Na klar, ausgerechnet mein ›Heil‹, Stas. Was weißt du schon von meinem Privatleben? Hauptsache, ihr Weltverbesserer und Heilssucher habt etwas gefunden, für das es sich zu leben und zu labern lohnt.«
    »Die Lauen werden ausgespien, das weißt du doch, oder?« »Halleluja! Hoffentlich putzt sich dein Gott regelmäßig die Zähnchen.«
    »Sprüche Salomoni 14,3: Im Munde des Toren ist eine Rute für seinen Rücken.«
    »Unsinn, Stas, wer da schon alles grün und blau einherginge …!«Mein Blick fiel auf seine Hände. Vor Wochen hatte er begonnen, sich das Zehnfingerschreiben beizubringen (er hangelte sich von Buchstabe zu Buchstabe, die Tage vergingen zwischen A und D, zwischen Sch und Schtsch, »Wo bist du jetzt?« fragte ich in der Mensa, »U«, antwortete er etwas belämmert, »bin immer noch nicht zum N gekommen, sonst könnte ich endlich beginnen, Briefe zu schreiben«). Ich konnte sehen, wie er begann, meine Worte mit Zuckungen der Fingerglieder im Schreibmaschinensystem auf die Tischplatte zu tippen.
    »Es gibt Menschen, die immer am Bestehenden festhalten, egal wie beschissen es ist.«
    »Und?«
    »Wasja: Den meisten Leuten hier ist überhaupt nicht klar, was das Referendum bewirken wird. Wie auch?! Die haben alle Zeit der Welt, um ihre Botschaft in den Äther zu blasen, und uns verbieten sie die Zeitungen, wir – «
    »Wer ist ›wir‹?«
    »Opposition nennt man das in einer Demokratie.«
    »Nationalisten?«
    »Auch. Ja.«
    »Ach Stas, ich könnte kotzen, wenn ich das Wort nur höre.
    Da steht dann plötzlich so ein Dreiklang mit Genozid und Faschismus im Raum. Ich weiß nicht einmal genau, was das eigentlich sein soll, wenn ich sage, daß ich Belarusse bin. Ich weiß auch nicht, ob ich überhaupt einer bin.«
    »Das geht nicht nur dir so. Oder kommt jetzt etwa wieder der Mist mit dem ungarischen Nomadenreiter?«
    Abwehrend hob ich die Hände.
    »Stas, warum bin ich trotz des Untergangs der Sowjetunion davon überzeugt, daß es immer nur dieselben Chargen sind, die versuchen, ihre Schäflein ins Trockene zu bringen? Esspielt überhaupt keine Rolle, wer an

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