Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
ich nach allen Regeln der Kunst Tante und Neffe, höfliche Distanz spielten. Alezja stand in einem langen ausgefransten Micky-Maus-Shirt in der Küche und schnippelte und zermatschte Bananen, die sie mit Kondensmilch vermischte und auf ihrem Zimmer als Brei trank. Die übrige Zeit trieb sie sich außer Haus herum, niemand wußte wo, wir hatten aufgehört zu fragen. Witterte Lesja so etwas wie Bevormundung, gebärdete sie sich wie tollwütig und kam nächtelang nicht zurück. Ich wollte nicht daran schuld sein, daß meine mittlere Tante mit ihren gerade einmal 19 Jahren irgendwann auf der Straße landete, nur weil ich nach gemeinsamen Bekannten gefragt hatte (natürlich vor allem aus Selbstschutz, damit Tanja und ich gewisse Plätze hätten vermeiden können).
Sonntags brachte mich Tanja zum Bahnhof, wir fuhren hinaus, hatten Sex, kurzen kalten Wintersex im Auto, unsere Lippen so lange aufeinandergepreßt, bis wir endgültig Abschied voneinander nahmen. Bis wir uns mit dem Wissen abgefunden hatten, daß nun wieder ein, zwei dieser endlosen Wochen vergingen, bis wir uns wiedersehen würden.
Tanja hatte ein Telefon angeschafft. Das war ein Anfang. Aber auch das Telefonieren stellte sich als schwierig heraus, besonders für sie, schließlich mußte sie Neutralität wahren. Ein paarmal gelang es mir nicht, sie an den Hörer zu bekommen. Alezja sprach schier endlos auf mich ein, der Apparat schien ihren Charakter zu verändern, und ich sah, wie ein Rubel nach dem anderen von der Telefongesellschaft aufgefressen wurde. An einem Herbstabend sprach sie einen ganzen Spielfilm hindurch. Es war ein Kinderklassiker in Schwarzweiß, er handelte von der Baba Jaga. Ich hatte den Ton abgestellt, sah, wie sich die Hexenhütte auf Hühnerbeinen fortbewegte, sah finstere Gesichter und verzweifelte Mienen, das stummeHänderingen der in Ketten gelegten Kinder, menschlicher Proviant, ich hörte Lesja lästern, fluchen, sich empören über jeden Kunden, der im letzten Vierteljahr den Fleischerladen betreten hatte. Jeden zweiten, sagte sie, würde sie liebend gern zu Tatar verarbeiten. Im Hintergrund wetzte die Baba Jaga das Messer. Ich schaltete um, sah das Gesicht des Präsidenten in Großaufnahme, schaltete weiter, abermals auf das Gesicht des Präsidenten und wieder und wieder. Endlich fand ich einen Sportsender.
Die langen Wochenenden ohne Tanja. Immer wieder begann meine Sehnsucht in Aggression umzuschlagen, die zu unterdrücken mir nur selten gelang. Zwei Rasierapparate und ein Radiowecker mußten daran glauben. Ich hätte einen prima Kulaken abgegeben.
Und doch war es eine erfüllte, eine erfüllende Zeit. Ich wollte kein Schrecken ohne Ende sein. Meine Ruhelosigkeit nahm nicht ab, aber sie hatte sich einen Punkt geschaffen, dem sie entgegenhasten konnte. Je komplizierter unsere Rituale gerieten, desto deutlicher zeichnete sich dieser Punkt ab, wurde mehrdimensional, war kein Punkt mehr, wurde zum Körper, war dieser Körper, in den ich, unregelmäßig und ungestüm, meine Energie, mein ganzes Leben entlud. Ich liebte die Zeit, da ich liebte.
Die Spechte klopften. Es war wieder Frühling, mein Kühlwasser roch nach Anemonen. Und Tanjas Gedanken kreisten um Marya.
Sie war jetzt beinahe ein Jahr auf der Schule und noch immer hatte sie keine Freundin mit nach Hause gebracht. Sie lachte selten, spielte für sich allein, sie wollte viel für sich sein, ging Lesja aus dem Weg, duldete nur Tanja um sich. Mich schien sie hinzunehmen wie eine wiederkehrende Krankheit, die nun einmal zum Leben gehörte, ein Schnupfen, der kamund ging. Die Wochen, in denen ich in Minsk war: die Inkubation, Freitag war die Zeit des Ausbruchs, Samstag lief die Nase und der Sonntagmittag sah schon der Heilung entgegen.
Nur daß es für Marya keine Heilung gab. Im Weltbild einer Nierenkosterin waren Heilungen offenbar nicht vorgesehen.
Marya war ein hübsches Kind, mit dem ovalen Gesichtsschnitt, dem schmalen Kinn, ihren fast schwarzen Augen, und dem braunen Haar, das nur um ein weniges heller als das ihrer ältesten Schwester war, und das immer so aussah, als wäre es feucht, frisch gewaschen. Als hätte, so dachte ich, die Natur noch einmal all ihre gestalterische Kraft zusammengenommen und verschmolzen in einer Person dieser Familie.
Dies hübsche Kind wurde immer blasser, seine Augensterne »veralgten« (Tanjas Wort dafür), es verlor seine Milchzähne vor der Zeit, die Ärzte winkten ab, ordentliche Spaziergänge würden genügen. Doch nach
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