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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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der Regierung ist. Nur wer dahintersteht und abwinkt oder mit dem Kopf nickt. Und das sind überall dieselben Seilschaften, nach jeder Wahl sind es dieselben. Bei uns, in Ungarn, in Deutschland, hier – «
    »Gib uns wenigstens die Chance, es zu versuchen.«
    »Die hattet ihr.«
    »Und du warst gar nicht da.«
    »Und ich war gar nicht da. Aber alle anderen.«
    »Weil unser Herr Präsident versprochen hat, es regnen und die Sonne scheinen zu lassen. Die meisten dieser Sowjetmenschen haben überhaupt nicht verstanden, worum es eigentlich geht.«
    »Those people who think they know everything are a great annoyance to those of us who do.«
    »Churchill?«
    »Budapester Klospruch. Eine Bar im American Quarter.« Stanislau trank von seinem fast erkalteten Tee. Er hielt die freie Hand unter die Tasse, um Tropfen aufzufangen und blickte drein wie ein Buddha auf Kartoffeldiät. Ich ertappte mich einmal mehr dabei, Zigarettenstummel aus dem Aschenbecher zu fummeln und sie der Länge nach zu sortieren. Ich ließ es sein. Und suchte unser Gespräch zu beenden.
    »Danke für den Tee«, ich hatte ihn nicht angerührt, er war kalt geworden, auf seiner Oberfläche schwammen Staubfäden, und war das da nicht ein Fetzchen Papier?, »ich weiß noch nicht, ob ich zu eurer Party kommen kann. Wann steigt sie denn?«
    »Wenn alle so denken wie du: erst hinterher, auf dem Oktoberplatz.«
    »Stas, Stas, vorher predigen, hinterher protestieren. Wenn er das Problem ist, dann quatscht doch nicht so lange drumherum, schießt ihn weg.«
    »Das ist jetzt nicht dein Ernst? Nein, das ist nicht dein Ernst, du spielst nur den Wiedergänger deines Großvaters. Wann hast du eigentlich vor, dein eigenes Leben zu leben, Wasja? Die große Revolution ist vorbei. Sie ist tot. Revolutionen können sterben. Wie Häuser. Wie Städte. Tot ist sie. Aber wir, wir leben. Es ist leider nur eine beschissene, langweilige Arschkriecherzeit. Da ist kein Platz für große revolutionäre Ideen. Unsere Gegner haben dazugelernt, also müssen auch wir anders vorgehen.«
    Stanislau holte tief Luft, dann setzte er hinterher:
    »Falls du es immer noch nicht gemerkt hast: dein Großvater war ein ziemlich jämmerlicher Revoluzzer. So groß sind seine Fußstapfen gar nicht!«
    »Du hast es nötig. Lieber mit dem Geist eines alten Revolutionärs rumlaufen als mit dem eines kleinen Mädchens.«
    Ich sah zu Jadwihas Puppe hinüber, sie schien mir zuzunicken. Stanislau schluckte. Er trank. Schluckte. Dann sagte er sehr leise:
    »Dein Großvater war ein Kadermann, Wasja. Mit allem Drumunddran. In den frühen Fünfzigern gab es ein paar Männer in unserem Städtchen, die verschwunden und nicht wieder aufgetaucht sind, nachdem er sie bei der Fünften Hauptverwaltung gemeldet hat.«
    Ich sprang auf.
    »Nie im Leben war Djeduschka ein KGB-Mann!«
    »Nicht nach ’56, da hast du recht, Wasja.«
    »Aber davor, was? Für jemanden wie ihn war der Sozialismus eine Herzensangelegenheit oder nichts.«
    »Die Denunziationen waren vielleicht auch eine Herzensangelegenheit. Er dachte, er würde das Richtige tun.«
    Ich hatte zwei Türriegel geöffnet, die Klinke schon in der Hand.
    »Wasja, ich habe monatelang in Moskau recherchiert. Der Name deines Großvaters taucht mehr als einmal auf. Es tut mir leid. Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen.«
    »Wahrlich, wahrlich, Stas, ich sage dir: ein Menschenfischer bist du nicht. Kein Wunder, daß ihr so wenig Erfolg habt, kein Wunder!«
    Ich ließ die Tür offenstehen. Türenschlagen hätte mich nur erschreckt.
    Auf dem Weg zurück kam ich am Präsidentenpalast vorbei. Vor den Absperrungen standen Frauen. Alte Frauen und junge Frauen. Sie hielten Fotovergrößerungen von Männern in der Hand, jungen Männern. Schwiegen. »Was ist mit meinem Sohn geschehen?« stand über ein Gesicht in roten Lettern geschrieben, »Wo ist mein Mann?« auf einem anderen. Ich dachte an eine Szene aus einem Musikvideo, das mir nicht mehr aus dem Kopf ging: Jemand versuchte angestrengt, mit dem Radiergummi eine Notiz auszulöschen, aber je vehementer er das Papier traktierte, desto schärfer wurde das Geschriebene.
    Es war Wochenende. Ich wollte nach Hause. Wollte mit Tatsiana, wollte mit Rasou sprechen. Wenn irgendjemand wußte, ob Großpapa ein Tscheka-Mann war, dann er. Die Nachbarn würde ich meiden. Großpapa, er war der Mann des Städtchens, was würde man ihm nicht alles andichten!
    Es war eine Katastrophe.
    »Laß doch die alten Geschichten«, sagte Tanja, die alle

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