Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
um mich zu schützen, wovor auch immer, vor wem auch immer. Erwachsen würde sie vermutlich wieder einmal tun, und »ruhig« und »vernünftig« auf mich einsprechen: daß es das Beste sei für Manja, für Lesja, für mich, für sie, für uns alle, für das Land, wenn wir das beendeten, uns einige Zeit am besten gar nicht sähen, uns nicht mehr im Auto beglückten oder draußen hinterm Kriegerdenkmal oder, seltener, weil dort nur abgespielte Langeweiler-Filme liefen, in einer Kinotoilette in Hrodna.
Das Muskelzittern hatte nachgelassen, dafür krampften jetzt meine Waden. Ich stand umständlich auf und humpelte der Umkleidekabine zu.
Alezja. Unter welchen Umständen, wie rasch würde sie das Interesse an mir, an dieser Erpressung verlieren? Suchte ich vor unserem Treffen noch einmal das Gespräch mit ihr, um sie zum Einlenken zu bringen, würde sie erst recht darauf bestehen. Sie würde spüren, wie sehr mir an der Beziehung mit Tatsiana gelegen war. Sie würde nicht nur zustoßen mit dem Dolch, sie würde ihn in der Wunde umdrehen. Mehr als einmal.
Vorher ging gar nichts. Aber danach. Wenn ich sie dabei rücksichtslos behandelte? Wenn der Sex katastrophal wäre oder einfach nur lahm? Die Chancen, daß Alezja sich wieder zurückziehen würde, weil ihr das Spiel auf Dauer zu abgeschmackt wäre, standen gut. Daß sie uns zwingen würde, voneinander zu lassen, ohne irgendeinen eigenen Vorteil zu haben, das klang nicht nach Lesja.
Auf dem Nachhauseweg stand ich lange an einer Fußgängerampel. Auf der gegenüberliegenden Seite beobachtete ich, wie eine Krähe über einem Baum kreiste, aber ihre Kreise waren nicht horizontaler Natur, sondern vertikaler. Sie holte ein umdas andere Mal zu einer Volte aus, entfernte sich, gewann an Höhe, stach wieder auf die Krone nieder. Als ich genauer hinsah, erkannte ich, wie sich im Astwerk ein Falke bewegte. Es sah aus, als würde die Krähe ihre Brut schützen. Spätlinge, dachte ich. Und dann dachte ich: Raben und Greife machen sich gegenseitig das Leben schwer, dabei sind sie wie von einer Familie. Sie müßten doch zusammenhalten.
»Donnerstag«, sagte sie am Telefon.
»Wo?«
»Bei dir.«
»Du willst nach Minsk kommen? In die Höhle des Löwen?
Ich könnte dich hier erwürgen, niemand würde es mitbekommen.«
Alezja hatte bereits aufgelegt.
Ich konnte mir nicht vorstellen, daß dieser Donnerstag kommen würde, konnte mir nicht vorstellen, daß sie hier wirklich auftauchte. Ich sah mich den ganzen Tag zuhause vor der winzigen Glotze sitzen, ein ums andere Mal das Gesicht des Präsidenten wegschalten und ein Eishockeyspiel nach dem anderen ansehen, verzweifelt nach dem Scheißpuck suchend, bis alle Spiele aus und alle Bierflaschen leer wären, und ich, halb eins vorüber, das Licht ausschaltete, um im Dunkeln diesen Tag zu überdenken, still in mich hineinzulachen, daß Alezja es nicht gewagt haben würde, mich herauszufordern.
Ich träumte von einer Proviantkammer, in die man mich gesperrt hatte. Nachlässig hatte man mir Ketten angelegt, es gelang mir, sie abzustreifen, aber kaum lagen sie am Boden, spürte ich unter der Kleidung eine zweite Reihe Stahl, und darunter noch eine und noch eine, und die, die am engsten saß, war wie um mein Skelett gewunden.
Um halb acht am Morgen klingelte es Sturm. Sekundenlang mußte ich das schrille Geräusch in meinen Traum eingebaut haben, denn als ich erwachte, bereitete ich mich aufs Internatsfrühstück vor. Mit nachtverklebten Augen trottete ich der Tür entgegen, stolperte über Bücherstapel im Flur, ich korrigierte den Winkel meiner Morgenerektion, und öffnete.
Alezjas rechtes Bein ist ein wenig kürzer als das linke, deshalb ruht ihr ganzes Gewicht beim Stehen auf dem Rechten, dessen Knie sie durchstreckt, während sie das linke lässig nach vorn schiebt, einen spitzen Winkel bilden läßt. Es wippte ein wenig, der Fuß schien einen unhörbaren Rhythmus zu schlagen.
»Du spinnst ja«, entfuhr es mir.
»Laß uns ausgehen«, sagte sie.
»Ist deine Uhr kaputt oder dein Kopf, Lesja?«
»Jetzt zieh dir schon was an, ich warte hier, beeil dich.«
Sie fächelte sich Luft zu.
»Und lüfte mal die Wohnung, das stinkt ja erbärmlich!«
Sie hatte es gewagt, ich hatte mich darauf eingelassen. Doch mit einem nächtlichen Überfallkommando hatte ich nicht gerechnet. Auch nicht damit, einen langen Einkaufsbummel vor mir zu haben oder Sehenswürdigkeiten mit ihr abzuarbeiten. Ich hatte keine Ahnung, wohin man um acht Uhr morgens
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