Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
erzählt. An den Wochenenden sah ich Maryas Kopf häufiger in der Tür auftauchen. Sie sprach noch immer nicht gerade überreichlich mit mir, aber sie blieb in meiner Nähe, wenn Tanja das Zimmer verließ. Alles war gut.
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht war nur aus Hamlet Ophelia geworden. Aber schon das trug dazu bei, daß sich diese kleine Familie einige Zeit verhältnismäßig im Einklang mit sich selbst befand.
Obwohl oder weil ich mit meiner Tante schlief.
Ich habe Tanja nie mehr danach gefragt. Ich bin mir sicher, sie hat mit sich gerungen. An ihr ist der mütterliche Katholizismus nicht einfach abgeperlt oder hat sich, wie bei Lesja, zu einem wilden Trotz entwickelt, der sich im Alter bestimmt wieder in fanatischen Konservatismus zurückverwandeln würde.
Daß Tanja das Verbot gereizt hätte oder das Verbotene – kaum vorstellbar. Tanja hat sich darüber hinweggesetzt, aber sie schien es um ihrer Gefühle und ihrer selbst willen getan zu haben, nicht aus Trotz. Vielleicht war es zu Beginn auch so etwas wie Willfährigkeit. Ich spürte, sie wollte mich nicht noch einmal verlieren; sie hat sich auf meine Spielregeln eingelassen, auch wenn die einen Tabubruch bedeuteten. Sie wollte mich, sagte sie, den ganzen Menschen, nicht nur den Finger, nicht nur die Hand, um welchen Preis auch immer. Verglichen mit den fünf Jahren unserer Entfremdung war es ihr wohl ein geringer Preis, den sie zahlen mußte. Auch wenn ich in ihren Augen sah, im Schrecken ohne Ende, der sich immer wieder einstellte, gerade in den kostbarsten Momenten, wenn wir ganz beim anderen sein konnten: daß der Preis für sie so gering nicht war. Ich dachte wiederholt an ein Gedicht von Rumi:
Wie sehr verlangt mich,
dich zu küssen,
und der Preis dieses Kusses
ist dein Leben.
Da eilt meine Liebe auf
mein Leben zu und ruft:
Was für ein günstiger Handel –
greifen wir zu!
Unablässig nahm ich mir vor, mit Stanislau über meine amour fou zu reden, aber der war viel zu beschäftigt mit seiner eigenen. Wir hatten unsere Freundschaft wieder dort aufzunehmen gesucht, wo sie stehengeblieben oder steckengeblieben war. Stas war für mich Minsk geworden, die Tage unter der Woche. Unsere Wege kreuzten sich fast täglich, aber wir verabredeten uns nie gezielt. Es dauerte eine halbe Ewigkeit,bis er mich das erste Mal in sein Zimmer einlud. Es war im November 1996 und schon so kalt, daß meine Schuhe schmatzende Geräusche auf dem gefrorenen Asphalt machten. Nachdem Stanislau ein Stipendium erhalten hatte, mietete er sich bei einer Pensionistin ein, weit draußen, an dem von mir aus entgegengesetzten Ende der Stadt. Das Studentenwohnheim erschien ihm auf Dauer ein viel zu gefährlicher Ort für seine Aktivitäten.
Mit dem, was von seinem ersten Geld übriggeblieben war, hatte er sich zwei Stahlschlösser für die Tür besorgt und seiner Vermieterin eingeschärft, bei ihm nicht mehr zu putzen. Zu ihrer Beruhigung hielt er dann und wann Zimmerrundgänge für sie ab, um ihr zu zeigen, wie staubfrei und sauber doch alles war.
In der übrigen Zeit hingen an den Wänden Zettel mit Daten und Zitaten zur weißrussischen Politik und Geschichte.
Wenn eine Epoche prägend ist, so ist es die sowjetische Zeit. Man könnte sagen, daß die Bevölkerung Weißrußlands am ehesten dem entspricht, was die politische Führung der UdSSR langfristig schaffen wollte: ein Sowjet-Volk. Donal O’Sullivan
Linien in den unterschiedlichsten Farben liefen von hier nach da, wirre Pfeile verbanden dies und das, einige Worte waren einfach umkringelt, andere so lange umkreist, bis das Papier fadenscheinig geworden war und die Tapete darunter Kugelschreiberspuren trug. Ich stellte mich vor diese Schaubilder wie vor Gemälde des abstrakten Expressionismus, las in ihnen wie ein Blinder in Materialbildern. Ich verstand nicht so recht, womit sich Stas eigentlich beschäftigte, wenn er sich ausnahmsweise einmal nicht mit dem Eigentlichen beschäftigte.
Unter Exposés und Arbeitsblättern verborgen fand ich auf seinem Schreibtisch Abschriften von Briefen an seine Eltern. Zehn, zwanzig Seiten lange Rechtfertigungsschreiben. Während uns Stas Tee kochte, überflog ich sie. Seine Eltern schienen kaum zur Kenntnis genommen zu haben, daß Stanislau studierte. Als müßte er ihnen Tag für Tag erst umständlich erklären, was er in Minsk trieb. Ich weiß nicht, ob sie es verstanden, weiß nicht einmal, ob sie die Briefe überhaupt gelesen haben. Hätte er Geld eingefordert, er
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