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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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meinem pastellfarbenen Schwedensofa. Sie hatte mich an den Rand gedrängt. Ich stützte mich auf den Ellenbogen, um sie besser betrachten zu können. Dann fielen auch mir die Augen zu. Ich lauschte dem Gang ihres Atems. In jedes Ausatmen duckte sich ein leiser, früher Vogelruf, mit solcher Regelmäßigkeit, daß es war, als hauchte aus Marya ein kündender Morgenvogel.

Wir sind zu jung nur
    » Daß selbstgeschaffnes Grau’n mich quält,
    Ist Furcht des Neulings, dem die Übung fehlt:
    Wahrlich, wir sind zu jung nur. «
    (Macbeth)
    November verschwand im Dezember. Plötzlich war er weg.
    Die zahllosen Briefe, die zwischen Marya und mir hin- und hergingen, hatten sicherlich Neueinstellungen bei der Post bewirkt. Ich schickte sie unter falschem Namen, damit unsere Haushexe (von der ich allerdings seit Monaten kein Lebenszeichen hatte) nichts erfuhr. Tarnte sie als Lehrmittelsammlungen. Nichts würde Lesja effektiver davon abhalten, einen Brief, der nicht an sie bestimmt war, zu öffnen, als die Befürchtung, daß sich darin Bildungsgüter befanden.
    Doch ich mußte auch Manja gegenüber vorsichtig zu Werke gehen. Wären sie zu ausgeklügelt, würde sie vielleicht ahnen, daß sich hinter meinen Vorsichtsmaßnahmen noch etwas anderes verbarg als reine Abneigung gegen Alis Neugier. Zur Erklärung dessen war ich beim Aufschreiben meiner Geschichte für sie noch nicht gekommen.
    Alle Figuren auf Grundstellung.
    Ich hatte nicht vor, jemals so weit zu kommen.
    In meinem Verhältnis mit Tatsiana und Stanislau war kurz vor dem Schachmatt gleichsam ein Wunder geschehen: Wirhatten uns auf ein Remis geeinigt. Ich glaubte verstanden zu haben, daß zwischen Liebe und der Einbildung, zu lieben, ein großer Unterschied war. Meine Einbildung bestand darin, eine Person zu lieben, die eine andere Zeit der Liebe hatte; eine Zeit, die ebenso vergangen war wie die Person, die sich selbst längst nicht mehr glich. Der Unterschied zwischen der Liebe zu einem Menschen und einer, die in Wahrheit Liebe ist zu bestimmten Stunden, zu einer bestimmten Zeit. (Und im letzten: Liebe zu uns selbst, wenn wir in diesen Stunden, in dieser Zeit, uns selbst durch den Blick der anderen wahrnehmen und lieben lernen.)
    Ich liebte nicht mehr. Oder liebte nur noch die Zeit, in der ich Tanja geliebt hatte. Und ließ sie vergehen, diese Zeit.
    Es war Dienstag vor Neujahr, als sie aus Brest anrief. Atemlos sprach sie davon, daß man Stanislau wegen »Beleidigung des Präsidenten« verhaftet hatte. Einer dieser Gummiparagraphen, der für Oppositionelle erlassen worden war, die zu schnell zu viel erreichten. So ziemlich auf alles anwendbar, angefangen mit offener Kritik in einem ausländischen Fernsehsender.
    Stas hatte es also endlich geschafft, dachte ich. In seinen Kreisen war das so etwas wie ein Ritterschlag. Und wenn ich ehrlich war: auch für mich war es einer.
    Ob wir etwas tun könnten, fragte ich Tanja, ob es ihm soweit gut gehe. Den Umständen entsprechend, sagte sie. Beim Grenzübertritt sei er in Brest von Geheimdienstleuten abgefangen und sofort verhört worden. Es gleiche einem Wunder, daß man ihn überhaupt telefonieren hatte lassen.
    (Natürlich hatte er sie angerufen, und sie spricht auch schon wie er, dachte ich. Diese Regierung war ihr ein Jahrzehnt lang vollkommen egal gewesen. Und nun war sie über Nacht zur barbusigen Göttin der Freiheit mutiert, die das Volk zur Revolution anführte.)
    Vor Donnerstag komme sie nicht zurück. Sie hatte Kontakt mit politischen Freunden dies- und jenseits der Grenze aufgenommen, wolle sehen, ob sich etwas zu Stas’ Gunsten ausrichten lasse. Alle hatten zugesagt und abgewiegelt, ins Gefängnis werde er wohl nicht müssen. Oder nicht lange. Ob ich in ihrer Wohnung einen Kontrollgang machen könne? Sie wisse nicht einmal, ob sie das Licht abgestellt habe, so übereilt sei sie aufgebrochen. Ich versprach, noch am selben Tag vorbeizuschauen, ich wußte, wo sie ihren Ersatzschlüssel aufbewahrte.
    »Und, Wasja …?«
    »Ja?«
    »Laß dich nicht von Lesja ärgern. Kann sein, daß sie gerade da ist. Ich hab sie nicht ans Telefon bekommen, sonst hätte ich sie gebeten …«
    Ich knurrte leise. Wie ein aufgescheuchter Köter.
    »Und, Tanja …?«
    »Ja?«
    »Laß dich nicht auch noch verhaften. Und sag Stas, er soll verdammt nochmal die Ohren steifhalten. Schließlich hat er jetzt die Wette gewonnen.«
    Ich nahm die nächste Metro, sah in Tanjas Wohnung nach dem Licht (aus), nach dem Gas (aus), nach Ali (aus). Ich war

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