Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
lern Thomas Wolfe auswendig, daß ich ihn dir abhören kann, wenn wir uns das nächste Mal sehen.
Das beigelegte Buch war so dick, daß es schon auf dem Weg zur Post aus dem Umschlag ausbrach.
Ich bin doch nicht so dämlich, schrieb Marya, und erzähle meiner dämlichen Schwester von irgendetwas, das mir wirklich wichtig wäre. Das war ein Scherz, Wasja. Im übrigen träume ich von Budapest, fast jede Nacht. Die Stadt sieht immer aus wie der feuchte Traum eines Denkmalpflegers. Und du bist an meiner Seite.
Es grenzte an Verzweiflung, daß ich mich ausgerechnet jetzt und ausgerechnet in Marya zu verlieben begann. Doch aus jedem Brief, den sie mir, den ich ihr schrieb, aus jedem Satz, den ich ihr aus der Internatsordnung oder Großpapas Florilegium zitierte, aus jedem Vers, über den wir uns einig geworden waren, daß er besser nicht geschrieben und nicht gelesen hätte werden sollen, oder wenn, dann gleich millionenfach –: aus jedem Wort glaubte ich das Knacken von Kettengliedern herauszuhören.
Ich stellte mir eine wie auch immer geartete platonische Zuneigung vor. Ich würde daran leiden, gerade daran, aberes wäre ein anderes Leiden. Das rechte für jetzt. Es wäre ein Leiden, das nach Buße oder Aschermittwoch schmeckte. Etwas in mir sehnte sich nach Aschermittwoch und Reinheit. Meine Lebensressourcen bestanden jahrelang nur aus meiner Zähigkeit, und darin, daß ich mich habe aufsparen wollen für ein wärmeres, unverbrauchteres Leben und ein wahreres, unverfälschteres Gefühl. Ich wähnte mich von Marya merkwürdig erkannt, erkannte sie auf merkwürdige Weise, erkannte mich in ihr und ihren Worten auf merkwürdige Weise, eine ins Unendliche gespiegelte Merkwürdigkeit. Ich wollte mich aussöhnen, versöhnen, mit einem Gegenüber, das aushalten würde, was ich aushalten mußte, und ich fand dies, merkwürdigerweise, bei Marya, bei der Nierenkosterin, nicht bei den Gefährtinnen meiner Jugend. Vielleicht weil wir einander zu nah waren, Alezja und Tanja und ich. Im gleichen Sumpf geboren, im gleichen Sumpf aufgewachsen. Und so wenig wie möglich aneinander aufgerichtet.
Erst war es ein Versuch, Wasja, dann ein Wagnis, dann ein Energiesprung. Und jetzt ist es nur noch die Frage: Wie konnte ich dich so lange nicht finden? Warum nur hat mir das Väterchen nie geraten, mich an dich zu halten?
Ich betrank mich. Ich hörte mit dem Trinken auf. Alle Figuren noch einmal auf Grundstellung, dachte ich, nochmal neu mit dem Spiel beginnen, und diesmal nicht dieselben Fehler begehen.
Zwischen Stanislau und mir waren Frauen nie ein Thema. Umso mehr war ich von mir selbst überrascht, als mich die Überfülle dieser Tage drängte, ihn aufzusuchen, ihm davon zu berichten. Zu berichten, daß ich in eine Beziehung miteiner 16jährigen schlidderte. Natürlich ohne einen Namen zu nennen. Keinen Vornamen, keinen Vatersnamen, keinen Familiennamen. Und daß ich kaum daran dachte, dies Schliddern noch abzubremsen.
Während ich erzählte, hielt Stanislau die Finger wie zum Gebet gefaltet, die Zeigefinger abgespreizt, aneinander gelegt, vor den Mund gelegt.
»Soll ich dazu jetzt etwas sagen, Wasja?«
»Sag was dazu.«
»Sie könnte deine Tochter sein!«
» Könnte , richtig. Ich könnte auch schon tot sein. Keiner weiß das besser als du.«
»Und was erwartest du von so einer Beziehung?«
»Daß sie mir Wasser in Wein wandelt. Mindestens.«
»Wein! Den brauchst du gar nicht mehr. Was du sagst, klingt so dermaßen besoffen.«
Wasser in Wein. Das war es wohl tatsächlich, was wir voneinander erwarteten. Die eine wollte mich retten, die andere wollte mich haben, weil mich ihre Schwester hatte, und die dritte, die wollte einen Helden, einen Ritter aus mir machen. Die göttliche Choreographie sah lauter komische Elemente für mein Leben vor, und erst ich habe versucht, dem ein wenig Würde und Tragik abzugewinnen.
Nur einen Tag später sprach mir Tanja auf die Mailbox: Daß wir dringend miteinander sprechen müßten, jetzt, es sei nicht aufzuschieben. Es klang nach Schlußmachen. Nach etwas Endgültigem.
Ich war bereit.
Wir trafen uns in einem Lokal im Regierungsviertel. Ich hätte sie kaum wiedererkannt, sie hatte sich das Haar aschblond gefärbt und zu einem strengen Medizinerinnen-Zopf gebunden, es kontrastierte scharf mit ihren schwarzen Fingernägeln.Aber es sah nicht billig aus. An ihr sah nie etwas billig aus.
Sie trank Wein, das erste Glas schüttete sie förmlich in sich hinein. Ich beschloß, ihr zu helfen, die
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